Da zählten doch noch die inneren Werte
Freund, ich habe mir schon immer überlegt, warum die Menschheit nicht mehr so ist wie früher. Und damit meine ich die Zeit, wo wir beide noch junge Burschen waren. Haben wir noch immer die Kontrolle über das Geschehen? Hast du nicht auch das Gefühl, unsere Evolution geht nach hinten los?
Früher. Da zählten doch noch die inneren Werte. Nicht deine schicke Kleidung oder das Modell deines Handys – solchen Quatsch gab es damals nicht. Was machen blonde Locken und blaue Augen gegen den natürlichen Intellekt und einen gesunden Verstand?
Was passierte mit der Romantik? Was früher Traum jedes Mädchens war, bezeichnet man heutzutage als kitschig. Wohl möglich, dass die Romantik von den Armen erfunden worden ist, denn für eine nächtliche Straße und den Sternenhimmel musst du deine eh schon spärlich gefüllte Geldbörse nicht noch mehr entlasten. Ist das wirklich der Grund, warum so manche Frau sich, von der innigen Romantik abwendend, nur noch von einem Restaurant oder einer Reise auf die Malediven verführen lässt? Findest du nicht auch, selbst die Liebe hat sich geändert? Um aus der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante zu zitieren:
„ – Was verstehst du unter einer ‚Stadt ohne Liebe‘?
– Ein seines Glückes beraubtes Volk.“
Und es stimmt doch, nicht wahr, mein Freund? Früher, als die Liebe wahrhaftig gewesen ist, da waren wir alle noch Menschen. Ach, und mir kommt gerade ein Gedicht in den Sinn, das – Freund, hörst du mir noch zu? !
Wo war ich stehen geblieben…Nun was solls, du bist doch noch der Alte, über die Liebe konnte man mit dir nie reden.
Was meinst du… Was geschah mit der anspruchsvollen Literatur? Warum nur hatte sich die Menschheit entschieden, die Weisheit und innere Ruhe auf diese digitalisierte und emotional ausgeschöpfte Welt auszutauschen? So wird es in 50 Jahren genauso enden, wie Ray Bradbury es in seinem Roman „Fahrenheit 451“ hervorgesagt hatte. – Ich sag dir, mein Lieber, die interessanteste Lektüre! – Zu wenige Menschen hatten eben die Erkenntnis der Tatsachen. Und so kam das unvermeidliche Ende, wobei das Leben doch gerade erst begonnen hatte. Und ja. Das ist es eben. Warum schreiben wir? Um Erfahrungen zu teilen. Und warum lesen wir? Um aus diesen Erfahrungen zu lernen. Doch wenn die Welt sich davon wegdreht, wer warnt uns vor dem Ende? Nun liegt die Hoffnung vermutlich nur auf uns, vereinzelten Personen. Denn, um abermals aus der Neapolitanischen Saga zu zitieren:
„In der schlimmen Welt, in der wir lebten, gab es keine Garantien.“
–
Ich nehme den Fotorahmen in die Hand. Das Bild zeigt zwei junge Männer. Links bin ich. Rechts Milo. Da waren wir noch jung. Doch das liegt schon viele Jahrzehnte zurück.
Früher.
Ich stelle den Rahmen auf den Platz.
Früher.
Eine heiße Träne fließt über meine Wange.
Früher.
„Du bist nun in einer besseren Welt. Bald, Milo, sind wir wieder vereint.“
Früher.
Ich schiebe meinen Rollstuhl langsam weg und sehe in den regnerischen Himmel.
Früher.
Da zählten doch noch die inneren Werte…
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