Dagmar ist nicht mehr
Dagmar ist nicht mehr.
Sie, von der zu Hause immer wieder gesprochen wurde.
Sie war eine wunderschöne Frau, wie ich nicht nur von den farblosen Fotos in ihrem altmodischen Fotoalbum wusste. Meine Mutter hat mir Dagmar immer als Vorbild präsentiert. „Schau Dir ihr Leben an und Du wirst viel für Deines lernen“, sagte sie immer, wenn wir sie im Weinviertel besuchten.
Und tatsächlich: Dagmar war eine aufregende Frau.
Als ich nicht mehr so klein war, um in ihrem Garten zu spielen, setzte ich mich zu ihr auf ihre nussbraune Essbank in der kleinen, lichtdurchfluteten Küche und fragte sie tausend Fragen. Geduldig, aber auch witzig antwortete sie, die in die Vorstandsebene eines internationalen Konzerns aufgestiegen war, als das als vollkommen unmöglich für eine Ehefrau und Mutter galt. Mit ihrem herzlichen Humor, ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Konsequenz ist sie wohl diesen Weg gegangen.
Bis, ja bis sie die Krankheit Demenz ereilte. Dennoch pflegte sie ihren Mann, bis er an sein und ihr gemeinsames Lebensende gekommen war. Nach seinem Tod musste sie bald die eigene, so helle Wohnung aufgeben und in ein Altersheim, später in die Pflegestation ziehen, wo wir sie oft besuchten. Dort entstand auch das letzte Bild von ihr, der einst so schönen Frau.
Am Tag danach wurde die Pflegestation für Besucher geschlossen, weil einzelne Covid-19-Erkrankungen auftraten. Alles ging gut, keiner füllte die tickende Corona-Statistik.
Als wir Dagmar nach vier Wochen endlich wieder besuchen durften, war sie nur noch ein Schatten eines Menschen. Zwei Tage später verabschiedeten meine Mutter und ich uns von der einst quirligen Frau. Wir sangen ihr Lieblingslied immer und immer wieder und sie bewegte die trockenen Lippen. 24 Stunden danach schloss sie für immer die Augen.
Die vier letzten Wochen der Isolation bedeuteten auch für andere auf der Pflegestation den Abschied vom Leben. Die Zimmer der Bewohner, an denen ich so oft in der Vergangenheit vorbeigegangen war, waren allesamt grau, still und kalt. An so mancher Tür fehlte bereits das Namensschild, die Schwestern hatten weniger zu tun.
Nein, die Station hatte sich verändert, wie sich die Welt draußen auch verändert hat. Alles wurde anders, Menschen konnten nicht mehr Mensch sein, ihren Freunden nicht Freund und ihren Alten nicht Kind. Die Einsamkeit ist ein grässlicher Geselle, still und still grausam, unbemerkt und unbemerkt konsequent, schleichend und schleichend massenhaft – tötet sie.
Die Einsamkeit ist das trotzige Kind der Corona-Politik, das von den Eltern versteckt sein Unwesen treibt. Am Ende bleibt eine tragische Bilanz: Unter der Prämisse des Lebensschutzes hat man das Leben geopfert. Doch die Opfer können nicht anklagen.
Nun tue ich es. Für Dagmar.
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