Damals wie heutevon Chrislane Barros da Silva
Damals stand ich auch hier. Ich vor dir.
Die Zeit war noch nie mein Freund, aber du schon.
Kannst du dich noch an unsere erste Begegnung erinnern? Große Stadt, kleines Ich. Große Augen, pures Staunen. Ich wusste sofort, dass ich hierhin gehöre. Zu dir gehöre. Die ganze Stadt war mein Spielplatz, meine Hochhauswildnis. Sich verstecken, wenn die Verantwortung ruft, und weglaufen, wenn die Realität versucht dich einzufangen. Das habe ich schon früh gelernt. Mein Herz ist zwar jung geblieben, aber mein Körper ist jetzt alt und wenn meine Beine mich noch tragen könnten, dann würde ich laufen, weit weg, in die Unendlichkeit der Fantasie. Genau das würde ich tun.
Die Zeit ist nicht stehen geblieben, aber ich schon. Hab vor dem weißen und schwarzen Boden gewartet, dass du mir statt rotes, grünes Licht gibst, damit ich den nächsten Schritt machen kann. Im Hintergrund habe ich es immer ticken gehört. Dieses immerwährende Ticken. Ist es schon wieder die Zeit? Die Menschen? Wie die Menschen ticken, wenn ihre Zeit tickt? Ist doch egal, denn du tickst anders. Nicht ich, du. Mit mir stimmt alles. Nur mit meinem Körper nicht.
Als er noch nicht rebellierte, als mein Leib und meine Seele noch gleich alt waren, ja, damals fühlte ich mich frei. War kein Gefangener meiner Selbst. Ich versuchte alles zu erforschen, wollte alles entdecken. Die junge Neugier trieb mich an. Alle deine Ecken und Kanten wollte ich kennen. Habe erfahren, wie du bei Nacht aufblühst, sie mit rhythmischer Musik und Tanz füllst, nur um den Tag mit frischem Wind und dem Aroma eines würzigen Kaffees zu starten. Das hektische Passieren der Menschenmengen, der Straßenlärm, die fremden Gerüche, nichts ist mehr Hals über Kopf als du. Ich war fasziniert von diesem Großstadt-Hin-und-Her, ich wollte mehr. Die ganze Welt habe ich bereist. Habe bunte Farben an Obstmärkten gesehen, herzhaft deftige Gerichte gekostet, mich der Gewaltigkeit des Meeres gestellt. Doch egal an welchem Ort mein Körper war, mein Herz fehlte. Es war bei dir. Du hast es aufbewahrt. Du bist mein Lieblingsort. Du bist meine Heimat. Plötzlich gierte ich nach einem würzigen Kaffee, nach frischem Wind. Das passiert mit uns Großstadtkindern. Wir lernen die kleinen Dinge umso mehr zu schätzen, weil wir von den großen Dingen tagtäglich umgeben sind.
Ich fand wieder zu dir und du hast mir geholfen erwachsen zu werden. Hast mir gezeigt, wie man mit beiden Beinen am Boden steht, und ab da vergingen die Tage so schnell. Auf einmal war es nicht mehr ich, der den ersten Schritt machte, sondern derjenige, der dabei zuschaute, wie andere ihn wagten. Ich konnte mich nicht mehr in meiner Hochhauswildnis austoben, sondern erzählte nur darüber, wie sie gewesen ist. Konnte der Realität nur noch mit Worten entwischen. Und wenn ich Geschichten erzähle, kommst du immer in ihnen vor. Meine Großstadt. Meine Heimat. Mein Lieblingsort.
Alles würde ich tun, um wieder bei dir zu sein. Aber nun können meine Augen nicht mehr zwischen schwarz und weiß unterscheiden, meine Ohren sind gegen das Ticken ertaubt, und meine Beine können die Sehnsucht meines Herzens nicht mehr tragen. Mein Körper war alt und die Zeit meinte es sowieso noch nie gut mit mir.
Ich will wieder frei sein. Will wieder weglaufen können.
Heute stehe ich ebenfalls hier. Du hinter mir.
Nichts ist größer als die Sehnsucht nach dir.
Damals wie heute.
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