Damit zu leben lernenvon Sara Schmiedl
Du gewöhnst dich schon daran… Ja, das haben sie gesagt. Immer schon haben sie das gesagt. Du gewöhnst dich schon daran, dass die Mama nicht bei dir bleiben kann im Kindergarten. Du gewöhnst dich schon daran, dass du nicht mehr Zeit hast, auf den Baum zu klettern, weil du für die Schule lernen musst. Du gewöhnst dich schon daran, dass du nichts zu melden hast in deinem Job. Du bist ja nur ein Angestellter, einer von vielen. Jeder ist ersetzbar. Und ja, es ist wahr. Man gewöhnt sich tatsächlich daran. Irgendwann ist es einem egal, dass man den anderen egal ist, und dadurch, dass es einem selbst egal ist, ist es schlussendlich wirklich egal.
Irgendwer sagte mal, „das Neue ist einfach nur das vergessene Alte“, und dadurch ist es ja nur natürlich, dass wir uns an neuartige Dinge gewöhnen, denn sie sind ja im Endeffekt nicht neu, sondern einfach nur wieder da. Sie waren weg, wir haben sie vergessen, jetzt sind sie wieder da und wir können uns daran gewöhnen.
So wird es auch mit dem Wohnzimmerfenster sein. Das absolute Lieblingsfenster. Kein anderes Fenster der Wohnung lässt so viel warmes, fröhliches Licht herein und stickige, abgewohnte Luft hinaus. Stundenlang kann man am Fenster stehen, das weit aufgestoßen worden ist, weg mit Vorhängen, weg mit Glasscheiben, weg mit hölzernen Klapperfensterläden! Die von der Arbeit müden Hände auf das rostige Geländer gestützt, den Hof betrachtend. Ein ausgesprochen schöner Hof ist das, die Wohnung war eine gute Wahl. Kleine Palmen stehen in großen Pflanztrögen herum, die man aber von oben nicht erkennen kann, deshalb kann man sich einreden, sie wären wirklich in der Erde verwurzelt und das Haus steht nicht hier, sondern irgendwo, wo es schön warm ist und die Sonne immer scheint. Nicht nur noch diese halbe Stunde, wenn man von der Arbeit nachhause kommt und zum Fenster stürzt, um die letzten Strahlen zu genießen, sie zur Seelenhygiene zu benutzen, als funktioniere man wie eine solarbetriebene Gerätschaft.
Doch nicht einmal das ist einem mehr vergönnt, wenn den momentanen Entwicklungen Glauben geschenkt werden soll. Und man kann ihnen Glauben schenken, immerhin ist das wirklich offensichtlich. Dieses Ungetüm von gefördertem Wohnraum wird nebenan aus dem Boden gestampft, ein wirklich grässliches Neugeborenes, und wächst und wächst und wird zum Wachsen gezwungen. Was für Menschen ziehen dort ein? Es ist so groß, es macht einen Schatten, so gewaltig, dass ich die Sonne nicht mehr sehen kann und mir nicht einmal die eine schöne, helle Stunde pro Tag vergönnt ist. Ein Leben in ständiger Dunkelheit. Mit der bittersüßen Erinnerung an das Licht. Hätte ich es bloß nie gehabt, würde ich es jetzt nicht vermissen. Hätte ich mich nur nie daran gewöhnt und es immer als etwas Anzubetendes verehrt.
Diesmal, dieses eine Mal weiß ich, dass ich mich daran nicht gewöhnen werde.
Diesmal, dieses eine Mal weiß ich, dass ich hiermit, damit, nicht zu leben lernen werde, es auch nicht versuchen will.
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