Dann kamen die Gedanken
"Damals, als ich ein Kind war, wusste ich noch was ich wollte. Das Leben erschien mir einfach. Kein Wenn oder Aber. Ich lebte einfach, ohne Sorgen, wusste überhaupt nicht, was dieses Wort bedeutet. Den Blick stets auf das Neue gerichtet. Die Augen offen, damit ich nichts versäumte. War ich müde, schlief ich ein. Sorglos und selig. Warum auch Angst haben? Mama war da. Sie war immer da. Hatte ich eine Wunde, verband sie mich, brauchte ich Halt, gab sie ihn mir. Warum einen Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft verschwenden, wenn ich doch eine Gegenwart hatte? Die Sonne strahlte, kitzelte mich, meine Hände voller Erde. Die schönste Sandburg vor meinen Füßen. Nackt rannte ich durch den Garten und fing die Tropfen auf, wenn es regnete. Mein größter Wunsch, fliegen zu können. Es war nicht wichtig, ob ich die Welt verstand oder nicht. Es spielte überhaupt keine Rolle, wer ich war oder sein werde. Denn für den Augenblick war ich einfach nur da. Ich und niemand sonst, und ich freute mich jedes Mal riesig, wenn meine Oma zu Besuch kam und mir Nusskuchen mit Rosinen mitbrachte, auch wenn ich Rosinen nicht mochte. Es schien als wären die Rosinen damals mein größtes Problem. Damals lachte ich einfach wenn ich glücklich war, und ich weinte noch, wenn mir etwas weh tat. Ich malte Bilder. Bilder mit bunten Farben, weil es mir gefiel. Nur das zählte. Und damals, damals hatte ich noch die Gabe, die Welt verkehrt herum zu betrachten. Mein Kopf war plötzlich ganz unten, dann kam der Hals über dem Kopf, der Bauch und dann ganz oben die Beine. Ich erinnere mich noch genau daran, wie es war, verkehrt herum im Baum zu hängen. . .
. . . Und dann kamen die Gedanken. Plötzlich war nichts mehr einfach. Ich erkannte, dass ich hässlich bin und die falschen Kleider trage. Nackt im Regen zu laufen war mir peinlich. Was wenn mich ein Nachbar sieht? Ich hörte auf zu reden. Hatte Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Es ging auf einmal nur noch um das Gleiche. Ich kann gar nicht genau beschreiben, was es genau ist, dieses Gleiche, denn es wird nie ausgesprochen, aber ich weiß, dass es da ist, und du weißt es auch. Es beengt, schränkt ein, raubt Freiheit und eigene Meinungen. Aber wie wehrt man sich gegen etwas Namenloses, das unausgesprochen in der Luft hängt? Ich weiß es nicht, es erdrückt mich. Wenn ich in andere Augen blicke, sehe ich dieselbe Hilflosigkeit, dieselbe Ruhelosigkeit. Aber ich bringe den Mut nicht auf danach zu fragen. Nur als Kind kannte ich ihn, den Mut. Jetzt habe ich Angst. Angst um mich, meine Zukunft, um alles. Sorgen und Unsicherheit plagen mich bei jedem Schritt.
Das fing alles an, als meine Gedanken kamen. Als ich älter wurde, würdest du vielleicht sagen. Und jetzt gerade in diesem Augenblick frage ich mich, ob es vielleicht möglich wäre, mich wieder Hals über Kopf auf einen Baum zu hängen und die ganze Welt verkehrt herum zu betrachten? Was würdest du dazu sagen? Würdest du mich auslachen? Oder dir insgeheim denken, wie mutig du mich findest? "
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