Das Dach ohne ihn
Ich fahre langsam über die Holzplatte neben mir, und meine Augen füllen sich erneut mit Tränen. Dieses Jahr bleibt sie leer. Ich bohre meine Fingernägel ins alte Holz und schluchze. Erinnerungen an die letzten Jahre überrollen mich. Ich brauche einige Minuten, bis ich meinen Blick wieder nach unten richten kann. Eine riesige Menschenmenge. Hunderte Stände. Stimmen, die sogar hier oben gedämpft zu hören sind. Lichter, die die ganze Stadt hell erleuchten. Um genau diese Zeit, vor 365 Tagen, saß noch mein Vater neben mir. Es ist… oder vielmehr es war schon seit ich mich erinnern konnte unsere gemeinsame Tradition, jedes Jahr kurz vor Weihnachten auf eines der Dächer zu klettern und dem Markt zuzusehen. Gefährlich? Sicher. Aber wir taten es trotzdem. Heimlich. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen älteren Mann. Er scheint gerade etwas Hübsches entdeckt zu haben, nimmt die Hand seiner Gefährtin und eilt mit ihr durch die Menge. Stimmen überschlagen sich, Lichter blitzen, Kinder kreischen, und überall drängen Menschen aneinander, jeder will schneller sein als der andere. Neben einem Stand gestikuliert eine junge Frau wild, während ihre Freundin lacht und nickt. Kurz darauf verschwinden beide im Chaos. Die Schlange ruckt vorwärts, stockt, ein Ruck, ein Drängen, ein lautes Fluchen. Ich stelle mir vor, er säße neben mir, quetschte meine Nase zwischen seine warmen Finger, sagte, sie sei eiskalt, und zöge dann seine Mütze so auf meinen Kopf, dass meine Augen halb verdeckt wären. Er ging einfach und ließ mich hier zurück. Gefangen zwischen damals und jetzt. Eine weitere Träne rollt meine Wange runter. Die Welt um mich herum scheint in einen Nebel gewickelt zu werden. Das Chaos des Marktes wird leiser, die Stimme in meinem Kopf lauter. Ich verliere jegliches Zeitgefühl. Mein Kopf kreist, Gedanken stürzen aufeinander, stolpern, prallen ab. Mein Herz schlägt schneller und gleichzeitig zieht sich alles wie Kaugummi in die Länge. Sein altbekannter Duft liegt mir wieder in der Nase. Diese lustige Mischung aus Leder und Vanille, die mich bei jeder Umarmung umwirbelte. Bilder fliegen durch meinen Kopf, Erinnerungen schlagen aufeinander, seine Wärme, unser letzter Abend, der letzte Sommer, die Lichter und dann Kälte, Verlust, Schuld, Wut, Stille. Immer schneller, immer dichter. Plötzlich ein scharfer Ruck. Schmerz brennt in meiner Handfläche. Der Nebel vor meinen Augen lichtet sich. Ich sehe den langen Schnitt und die Bluttropfen auf das Dach fallen. Verwundert betrachte ich das Metallstück, das mich geschnitten hatte. Dann brechen die Stimmen wie eine Welle auf mich ein. Lichter blitzen, Rufe und Lachen prallen an mich. Musik reißt mich zurück. Mein Herz stolpert, findet wieder seinen Takt. Ich starre auf das Blut, spüre den Schmerz, atme. Zum ersten Mal seit Stunden weiß ich genau, wo ich bin. Die Welt rast weiter, doch ich atme. Mein Rhythmus kehrt zurück. Anders. Aber genug um weiterzumachen.
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