Das Echte? von Thea Steimer
Er hatte die Zugkarte, die ihm der kleine Mann hingehalten hatte, gedankenlos angenommen. Es überraschte ihn nicht, dass dieser die Zugkarten verteilte wie Flyer, denn in seinen unzähligen Tagen als Reisender hatte er sich daran gewöhnt, dass das Unvorhergesehene die Regel bildete. Er hatte herausgefunden, dass jene Menschen, die reisen, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen, das tatsächliche Wesen dieses Zustandes, in dem man sich über Kontinente und Weltmeere hinwegtreiben lässt, als säße man im Floß, nicht begreifen können.
Dieser Zustand, der einem seine Identität erst in all seinen Facetten präsentiert, um sie dann unwirklicher werden zu lassen, bis sie einem schließlich wie eine der Städte in den Schneekugeln vorkommt, etwas das recht hübsch anzusehen ist, vor allem in einem ungewohnten Licht betrachtet, aber ohne eigenen Gehalt. Wie auch die Gesetzmäßigkeiten wie viel Geld man braucht oder wem man vertrauen kann, sie alle kommen einem mit der Zeit so fremd vor wie einem Menschen, der eine ähnliche Anzahl an Jahren auf dem Mond verbracht hat, die Belastung der starken Gravität auf der Erde.
Diesen Zustand erreichte man seiner Erfahrung nach erst, wenn man eine gewisse Anzahl an Jahren reisend verbracht hatte. Ein Reisen, wo man erst wusste, in welchem Land man sich befand, wenn man im Hotel ankam. Ein Reisen ohne Tagebuch, ohne Geldprobleme, ohne Suchen nach Bequemlichkeit, ohne Freunde und ohne Ziel.
Als er auf den Zug wartete und unbewusst eine Mutter und ihre Tochter beobachtete, die sich darüber stritten, ob dies wirklich das richtige Gleis war, begann er darüber nachzudenken, ob er sich diesmal in ein besetztes Abteil setzen würde. Er hatte zahllose Erinnerungen an die Gespräche, die meist kurz vor Endstation einsetzten, zwischen denen, die sich noch im Abteil befanden und sich dadurch in etwa so verbunden fühlten wie Menschen, die ein Kunstwerk zusammen vollendet hatten, obwohl andere Künstler schon aufgegeben hatten. Einfach, weil sie sitzen geblieben waren, während andere sich verabschiedet mussten. Sie, die Auserwählten, hatten es bis hierher geschafft.
Man könnte meinen, dachte er und bemerkte dabei kaum, dass außer ihm nur zwei andere Passagiere in den Zug einstiegen, dass ihm diese Gespräche mittlerweile leichter fallen sollten. Doch meistens endeten sie damit, dass sein Mund wie mit flüssigem Blei gefüllt war, denn was bei den Wohnenden das Wetter ist, das ist bei Reisenden ihr Reisegrund. Bei den meistens ähnlich "meine Firma schickt mich…", oft tragisch: "ich fahre so lange hin und her, bis mir die Frau meines Lebens nochmal begegnet", manchmal köstlich skurril: "Ich mache grade eine Pilgerreise zu allen Städten, deren Namen die Anagramme meines Vornamens bilden", Doch selbst dann, wenn der Grund selbst sich völliger Sinnlosigkeit annäherte: "Ich habe Ferien und meine Freunde fahren halt auch alle weg", ging es doch immer um die Erfüllung eines Wunsches und äußerst selten einfach darum, dass man sich selbst und die Menschen, die man um sich sammelte, so wenig aushielt, dass man fliehen musste, und wenn dies doch mal auf jemand Anderen zutraf, dass er nur reiste, um nicht an einem Ort zu bleiben, dann erkannte er es meist daran, dass er wie jetzt mit dieser Frau schweigend mit ihm oder ihr im Abteil saß.
Sie hatte die Füße auf den Platz, der zwei von dem entfernt war, auf dem er saß, gelegt und eine Bierdose in der Hand. Sie war nicht erfreut gewesen, dass er sich zu ihr gesellt hatte, wusste sie doch, dass dieser Zug fast leer war, fast leer sein musste, mit dieser Destination. Er fühlte trotz allem das Bedürfnis, sie auf die Zeitung anzusprechen, die sie las und die anscheinend zur Ausstattung des Zuges gehörte. " Im sorry do they have anything interesting to say in there? " Sie sah nicht auf, stattdessen begann sie mit monotoner Stimme vorzulesen oder so zu tun als ob und sagte: "third instruction: We advise Passengers that do not know why they are sitting in this train to go to the toilet. " Es war eine direkte Aufforderung und so verließ er das Abteil, um tatsächlich die nächste Örtlichkeit aufzusuchen, denn alle anderen Abteile waren jeweils von immer nur einzelnen Individuen besetzt, die die gleiche Leere in ihren Blick hatten wie die Frau in ihrer Stimme. Die gleiche Leere, die er in sich spürte.
Diese Zugtoilette war in etwa so groß wie ein eigenes Abteil, hatte helle Holzwände ähnlich denen in einer Sauna, die über und über mit kleinen Texten in verschiedenen Sprachen bedeckt waren. Selbst der Spiegel war mit gekratzter Schrift überzogen und mit Edding beschrieben. Er war noch voll eingenommen von diesem Bild, als sich die Tür automatisch hinter ihm verschloss. Daraufhin begannen sich die einzelnen Holzleisten zu verschieben, sie reagierten dabei auf seine Bewegungen und bewegten sich immer grade dort, wo er sie nicht beobachtete, bis schließlich ein Text in sein Blickfeld geriet, direkt vor seine Augen in den Fokus kam, und er dachte sich, so musste es sein, wenn man sich im Inneren eines Magic 8 Balls befindet. Langsam entzifferte er diese mit Bleistift gekritzelten Sätze.
Ich lebe als jemand, der aus dem Fenster sieht
immer nur wahrnimmt was geschieht
will ich auf etwas Einfluss nehmen
beginne ich meine Augen zu drehen
ich kann nichts geben und will nichts sein
bin Kamera, Mensch nur zum Schein
und weil die Echten das irgendwann entdecken
muss ich mich vor ihnen verstecken
Hals über Kopf breche ich Tag für Tag auf
verliere sie und mich im gestreckten Lauf
denn so zu tun als wäre ein ich Teil von ihnen
will mir einfach nicht gelingen
schlichtes Da-sein schon Betrug
so entfliehe ich in diesem Zug
Jetzt wusste er also. warum er hier war. Nun konnte er es der nächsten Person erzählen, die ihn treffen würde. Denn dafür brauchte er ja den Grund, für ein reibungslos verlaufendes Gespräch. Die Tür öffnete sich, er trat zurück in den Gang und sah schon von weitem den Fahrkartenkontrolleur aus seinem Abteil herauskommen. Er kramte in seiner Jackentasche nach der Fahrkarte und hielt sie bald darauf den Mann hin, dem von Natur aus ein ständiges mildes Lächeln auf das Gesicht gemeißelt schien. "I wish you a pleasent journey" sagte der mit bestimmter tiefer Stimme und stempelte den Fahrschein ab. Um den Stempel zu betrachten, sah der Reisende zum ersten Mal auf die ihm geschenkte Fahrkarte, da stand:
Fahrkarte nach Utopia Abfahrt 13: 30, Ankunft unbestimmt. Lächelnd setzte er sich zurück zu der Dame . "So this is a train to Utopia" meinte er und sie antwortete belustigt: " "Of course where else is there to go. "
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