Das Ende des Regenbogens
Die Nachtigall sang noch und die Sonne stieg über die Dächer der bestaubten Stadt. Sie sang in Harmonie mit der läutenden Glocke, und die Lehrerin trat ein, in einer Hand die Tests der letzten Woche, die Andere bei der Abwesenheitskontrolle. Eine Schülerin öffnete das Fenster und die sanfte Brise hob die frisch gewaschenen Haare von Philomena, die verzaubert in die Ferne starrte. Das Stimmengewirr der Klasse mied sie, wie Glück die Unglücklichen.
Sie klammerte sich krankhaft an den roten Seil, der, wie eine hungrige Schlange, an ihr gebunden war und ihr Atem zu nehmen drohte.
Die Brise wurde zum Wind, die Sonne versteckte sich hinter blauen Wolken, und Philomena flanierte entlang der Donau mit ihrer besten Freundin. Die zeigte unsicher auf den roten Seil. Philomena nahm mit anfänglicher Leichtfertigkeit das andere Ende, das zum Wasser führte, sie führte ihre Finger entlang der Stofffaser, und beugte sich über den Spiegel. Zu ihr hinauf winkten ein Mädchen mit Märchenlocken und ein Junge mit schwungvollen pinselgemalten Augen.
Und der rote Seil führte weiter zu den Wolken, und Philomena folgte ihm, und den Schatten ihrer Spiegelfreunde. Sie freute sich übers Gleichgewicht im Flugzeug, und ohne Turbulenz glitt sie auf dem Weg zur Zukunftshauptstadt, und der rote Seil schwebte wirbelnd dem Sonnenuntergang entgegen.
Philomena streifte langsam durch den Alexanderplatz. Im Schatten der S-Bahnbrücke schob sie der kalte Fahrwind zur Seite. Philomena wischte ihre Strähnen, wie Tränen, aus dem Gesicht. Und die rote Schicksalsfaser umkreiste einen Jungen und ein Mädchen. Und Philomena zog an den Seil. Aber das Mädchen hatte keine Märchenlocken und der Junge keine schwungvollen pinselgemalten Augen.
Philomena jagte den Eichhörnchen von Hyde Park nach, ihr Blick verfehlte die kleinen Anwesenden der Alltage. Die Tiere rannten zu den Füßen eines Jungen und eines Mädchens, hinter denen die rote Schicksalsbindung den Sonnenuntergang auf die Wolken der Regenstadt malte. Und Philomena zog an den Seil. Aber das Mädchen hatte keine Märchenlocken und der Junge keine schwungvollen pinselgemalten Augen.
Philomena setzte ihren Kopfhörer auf und blickte hinunter, dann hinauf, in einer Hand das Handy, in der Anderen der Kaffee. Die Menschenmenge in der Mariahilfer Straße öffnete sich vor ihr und schloss sich hinter ihr, und eine Brise wehte mit Spätsommerwärme beim Sonnenaufgang. Philomena spazierte durch eine sich erstreckende Linie von grünen T-Shirts, eine unendliche, gleichförmige Bewegung, und vor ihr lief der rote Seil nach vorne. Philomena drehte sich um sich zum Refrain der Musik, denn im New York Europas ist man frei zu tun, wie man wünscht, man ist frei zu sein, wer man ist. Sie ergriff das rote Schicksal und tanzte mit ihm. Und so sah sie ein Mädchen, mit dem Atem einer singenden Schauspielerin, und einen Jungen, mit dem Blick eines von Karten umgegebenen Gedankenlesers. Und Philomena zog an den Seil, suchend unermüdlich nach dem Ende des Regenbogens.
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