Das Ende einer Fahrt
„Mama, wie lange fahren wir noch?“ Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Das kleine Mädchen in der Reihe vor mir zupfte ungeduldig am Ärmel ihrer Mutter herum. Die Mutter machte einen angestrengten Versuch ihrer Tochter ein Lächeln zu schenken und zuckte mit den Schultern. Enttäuscht widmete sich das Kind wieder seinem Teddy, der wie es ein rosafarbenes Kleid trug und kurz danach starrte das Mädchen nachdenklich aus dem Fenster und beobachtete dabei die vorbeiziehenden, kahlen Landschaften.
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie erinnerte mich an meine eigene Kindheit. Der einzige Unterschied lag darin, dass ich zu meiner Zeit als Kind noch grüne, saftige Wiesen, vorbeifliegende Vogelschwärme oder in den Feldern herumtollende Rehe zu sehen bekommen dürfte. Die Dinge, die früher selbstverständlich waren, sind heute nur noch eine verblasste Erinnerung einer Minderheit.
Das Sonnenlicht haben wir schon lange nicht mehr gesehen, selten lässt die Sonne sich durch die dichte Nebeldecke, die sich über unseren Heimatplaneten gelegt hat, blicken. Das sollte uns jedoch nicht an unserer Lebensfreude hindern, denn unser Vitamin D bekommen wir, wie eigentlich alle anderen wichtigen Nährstoffe, durch Präparate. Damit wir nicht verhungern, nehmen wir einen hochkalorischen Brei, der im Labor gefertigt wird, zu uns. Pflanzen gedeihen nicht mehr, Krankheiten gibt es nicht mehr. Von dem einfachsten Schnupfen bis hin zum bösartigen Hirntumor, wir Menschen sterben nicht mehr. Ein ewiges Leben wurde uns geschenkt. Ständig verfolgen uns die durchbohrenden Blicke von tausenden und abertausenden Sicherheitskameras und sich im Freien aufzuhalten wäre vermutlich eine schlechte Idee, denn trotz der Hilfe von künstlicher Intelligenz und neuesten Forschungsmethoden, kann man gegen giftige Gase in der Atmosphäre nichts tun. Auf den Straßenplakaten wird nicht mehr für den neuen Blockbuster, sondern für „Happyforte: die kleine Pille für große Gefühle“ geworben.
Wieder riss mich eine Stimme, diesmal eine Durchsage, aus meinem Gedankengang. Der Zug war an der Endstation angekommen. Die Leute bildeten eine lange Schlange vor dem Ausgang, niemand redete miteinander. Es war in diesem Moment, als ich begriff, dass nicht nur der Zug an der Endstation angekommen war.
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