Das Gefühl
Die ersten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster hereinfielen, umspielten sanft ihre Nase und lockten sie allmählich aus ihrem traumlosen Schlaf. Sie erwachte mit einer Unruhe, die sie schon seit mehreren Tagen begleitete.
Seufzend wand sie sich zur Seite und erblickte das noch ruhende Gesicht ihres Mannes – so wie an jedem Tag der letzten zwanzig Jahre.
Noch etwas ermattet schlug sie die Decke zurück und verließ das Bett. Auf Zehenspitzen tapsend spähte sie in das Zimmer ihrer beiden Kinder. Es war alles ruhig.
Leise zog sie die Türe wieder zu und blieb mitten im Flur stehen. Ihre Füße erschienen ihr mit einem Mal so unerträglich schwer. Sie spürte das kühle Holz des Parkettbodens unter sich, den ihr Mann beim Bau dieses Hauses so stolz verlegt hatte. Sie dachte an die kleinen nackten Füße ihrer Söhne, die über diesen Parkettboden liefen. Lachend. Weinend. Schreiend.
Sie dachte an sich selbst, hier auf diesem Parkettboden stehend, umringt von all den Bilder. Den eingefangenen Momenten, die sie mit diesen drei Menschen erlebt hatte. Sie fragte sich, weshalb diese vier Wände, diese drei Menschen, die sie so sehr liebte, solch eine Leere in ihr schufen. Dieses Leben hatte sie mit aufgebaut. Teil für Teil, Stück für Stück. War es nicht das, was sie immer wollte?
Endlich entkam sie der lähmenden Bewegungslosigkeit und fand ihren Weg in die Küche. Sie entnahm der Kredenz eine Tasse und platzierte sie unter der Kaffeemaschine. Sie war ihr der liebste Teil der Wohnung. Seit über zwanzig Jahren besaß sie das gute Stück, das sie damals bei einem kleinen Straßenhändler in Indien entdeckt hatte.
Die Tasse mit den Händen umschlungen saß sie am Fenster. In der Nähe kündigten ein paar Vögel mit ihrem hellen Gesang einen neuen Tag an und mit der aufsteigenden Sonne wuchs auch ihre Unruhe. Ihr Blick glitt durch die Küche und blieb an einem Foto hängen, das an der Wand hing. Es zeigte ein kleines Häuschen aus Bambus, umgeben von Zitronenbäumen. Und es zeigte sie – glücklich. Es wurde in Indien aufgenommen. Damals schien der Horizont unendlich, ihrem Leben keine Grenzen gesetzt. Damals hatte sie noch Träume. Hat sie geträumt. Hat sie gelebt. Warum hat sie aufgehört?
Sie wusste nicht, was es letztlich ausgelöst hatte - was sie dazu veranlasst hatte aufzustehen. War es das Bild? Das Verlangen nach mehr, nach etwas anderem?
Sie wusste nur eines. Jetzt endlich wusste sie es. Sie wusste, dass das nicht genug war. Und in diesem Moment, in dem sie das erkannte - in dem sie erkannte, dass das nicht genug war, dass das nicht ihr Leben war - da wusste sie, dass sie es schon lange gewusst hatte. Und sie spürte es. Sie konnte spüren, wie die Unruhe langsam kleiner wurde. Schrumpfte. Sich zusammenzog. Und verschwand. Sie konnte spüren wie sich an ihrer Stelle etwas anderes entfaltete. Ein Gefühl, das sie schon seit Jahren nicht gefühlt hatte. Ein Gefühl, von dem sie dachte, sie hätte es schon lange verloren.
Freiheit.
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