Das Geheimnis
Noch bevor irgendein Arzt es ausgesprochen hatte, war mir klar, dass mein kleiner Bruder anders war als alle anderen. So sehr sich meine Eltern auch darum sorgten und sich Gedanken machten, ich kam damit gut zurecht. Manchmal machte er komische Sachen, die keiner außer ihm verstand.
Einmal legte er sich auf sein Bett und ließ den Kopf über die Bettkante hängen. Verwundert fragte ich ihn nach dem Sinn dieser Aktion und einige Momente musste ich warten, bevor ich eine Antwort bekam: „Alle Menschen gehen auf dem Kopf.“ Sein Blick war starr auf etwas gerichtet, das ich nicht sehen konnte. Also betrat ich langsam sein Zimmer und entdeckte ein Buch, das er in seinem Sichtfeld aufgestellt hatte. Eine Seite mit einem Foto war aufgeschlagen, auf dem viele, auf einer Straße gehende Personen abgebildet waren. Er sah das Foto verkehrt, die Personen standen für ihn auf dem Kopf und ich beschloss, ihm die Freude zu machen, mich neben ihn zu legen und das Bild ebenfalls verkehrt zu betrachten. „Die Beine sind oben, der Bauch in der Mitte und der Hals über dem Kopf“, stellte ich sachlich fest. „Ja“, stimmte er mir zu. „Aber das ist nicht immer so“, erklärte ich ihm, „Menschen gehen mit ihren Füßen und nicht mit ihrem Kopf.“ Schnell drehte er mir sein hochrotes Gesicht zu und zog die Augenbrauen fragend hoch. Ich erwartete eine Frage oder einen Widerspruch, doch er schwieg. Wir starrten weiter auf das Bild mit den Leuten, die auf ihrem Kopf gingen und mir wurde schwindelig. Vorsichtig setzte ich mich auf und seufzte, da von ihm immer noch keine Antwort gekommen war. „Na gut“, rief er so plötzlich, dass ich zusammenzuckte, „Aber du hast es auch gesehen. Manche Menschen gehen auf dem Kopf.“ Gerade wollte ich ihn erneut ausbessern, ihm erklären, dass wir es waren, die das Bild verkehrt betrachtet hatten, doch ich riss mich zusammen. Es hatte keinen Sinn, ihm zu widersprechen, also stimmte ich zu. Schnell begab er sich in eine Sitzposition, mir wurde alleine vom Zuschauen dieser hektischen Bewegung schlecht. „Das wissen nur ich und du. Dass manche Menschen auf dem Kopf gehen können. Das bleibt unser Geheimnis“, er fixierte mich angespannt und hielt mir seinen ausgestreckten kleinen Finger entgegen. Allmählich nahm sein Gesicht wieder eine normale Farbe an und ich verhakte meinen kleinen Finger mit seinem. „Ja. Das bleibt unser Geheimnis“, bestätigte ich.
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