Das Hochzeitskleid meiner Mutter
Meine Mutter Else ist schon seit sieben Jahren tot. Schon sieben Jahre lang hat keiner mehr ihre Stimme gehört, ihre Hand geschüttelt oder einen Kaffee mit ihr getrunken. Schon seit sieben Jahren lebt sie nur noch in meiner Erinnerung. Jeden Tag fallen mir verschiedene Erinnerungen mit ihr ein. Zum Beispiel erinnerte ich mich daran, dass als ich ihr einmal helfen wollte, das Haus zu putzen, ich gerade mal fertig war mit dem Badezimmer, während sie schon das ganze restliche Haus geputzt hatte. Enttäuscht und genervt von meiner Langsamkeit, dankte sie mir trotzdem für meine Hilfe. Meine Mutter war allgemein eine recht schnelle Frau. Sie sprach schnell, sie aß schnell, sie atmete schnell, sie arbeitete schnell, sie lebte schnell. Langsamkeit, vor allem bei der Arbeit, fühlte sich für sie wie eine persönliche Beleidigung an. Sobald sie die langsamen Hände ihrer Kollegen erblickte, brodelte es in ihr und es war ihr danach, jeden einzelnen Kollegen anzuschreien, er solle sich beeilen. Bei der Arbeit wurde sie für ihr zügiges Tempo bewundert, doch eine Beförderung bekam sie nie. Meine Mutter blieb ihrer Schnelligkeit trotzdem immer treu. Sie blieb ihrem Tempo so treu, dass sie meinen Vater heiratete, obwohl sie sich erst drei Monate kannten. Sie heiratete so schnell, dass sie vergessen hatte, sich zu verlieben. Genau so schnell ging es auch mit dem Kinder kriegen. Ich kannte die Lebensgeschichte meiner Mutter allzu gut und nie war es für mich nachvollziehbar, weshalb man einen Mann so schnell heiratet, weshalb man so schnell Kinder kriegt und weshalb man immer alles schnell machen musste. Und was ich schon als unlösbares Mysterium abgestempelt hatte, wurde mir endlich klar, als ich am Tag meiner Hochzeit vor dem Spiegel stand. Meine Mutter Else ist ihr ganzes Leben lang weggerannt, denn sie hatte Angst. Angst, gekündigt zu werden, wenn sie nicht schnell genug arbeitet, Angst, nicht pünktlich zu sein, wenn sie ihr Mittagessen nicht schneller isst, Angst, auf ewig alleine zu sein, wenn sie nicht den erstbesten Mann heiratet, Angst vor dreißig keine Kinder zu kriegen, so wie es von Frauen erwartet wird. Als ich da stand, in dem alten Hochzeitskleid meiner Mutter, das ich eher ihretwegen als meinetwegen trug, verstand ich sie endlich nach all den Jahren. Wir waren uns nicht nur visuell ähnlich, sondern wir teilten auch die selben Ängste. Meinen Freund heiratete ich schneller als ich es eigentlich wollte, aus Angst davor, alleine zu sterben, mich befiel plötzlich die Angst, vor dreißig kinderlos zu sein und ich realisierte, dass ich das Hochzeitskleid meiner Mutter trug, weil ich Angst hatte, sie zu enttäuschen. Mein Atmen wurde schneller, die Panik ergriff mich und durch meinen Kopf gingen nur zwei Fragen: Werden meine Kinder auch so Angst haben wie ich und hätte ich diese Angst, wenn meine Mutter nicht Else wäre?
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