Das Klassenopfer
8 Uhr. Die Schulglocke läutet. Ich sitze neben meiner besten Freundin in der zweiten Reihe. Unauffällig, so wie jeden Tag. Kein Blick wendet sich nach uns um, niemand interessiert sich für uns. Das ist uns auch ganz recht so. Wir wollen nicht auffallen, nicht anders sein. Ich weiß, dass er hinter mir sitzt. Er, das Klassenopfer. So müssen ihn alle nennen. Sandra hat ihm den Namen aberkannt. Er hat keinen Namen verdient, hatte Sandra gesagt. Was Sandra sagt, gilt für gewöhnlich. Niemand würde es wagen, Sandra zu widersprechen.
Das Klassenopfer sitzt schweigend auf seinem Platz. Die Lehrerin fordert das Klassenopfer auf, ihre Frage zu beantworten. Schweigen. „Ich weiß es nicht.“ Sandra beginnt zu lachen, und alle wissen sofort, dass sie auch lachen müssen. Bald lachen alle, auch meine beste Freundin und ich. Ich sehe mich nicht um. Ich will nicht wissen, was es macht, das Klassenopfer. Ich blicke stur nach vorne und lache.
14 Uhr. Die Schulglocke läutet das Ende des Unterrichts ein. Das Klassenopfer springt auf und begibt sich auf schnellstem Weg zur Tür. Kaum ist es verschwunden, steht Sandra auf, nickt ihren zwei besten Freunden zu und rennt mit ihnen dem Klassenopfer nach. Ich bleibe sitzen. Ich weiß was passieren wird. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht etwas sagen sollte, ob ich nicht eingreifen sollte, aber dazu fehlt mir leider der Mut. Ich könnte selbst zum Klassenopfer werden.
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