Das Leben des Tempo
Es war der 12. 11. 2024, das war der Tag, an dem meine Packung hergestellt wurde. Eigentlich nicht nur meine, sondern auch die meiner vielen Brüder und Schwestern. Wenige Tage danach wurden wir auch ausgeliefert in einen kleinen Billa. Das war ein wichtiger Tag für uns. Wir werden bald erfahren, was unsere Bestimmung ist. Wir hatten gehört, dass wir Teil eines Bastelprojekt werden oder einfach als Tempo benutzt werden könnten. Könnte ich es mir aussuchen, wäre ich Teil eines Bastelprojekts, diese glücklichen Taschentücher leben sicher länger als andere meiner Art. Außerdem war die Vorstellung mit lauter Schleim zusammengefaltet zu werden widerwärtig, aber dies konnte ich mir natürlich nicht aussuchen.
Meine Tempopackung wurde zuerst gekauft. Wie stolz ich doch war. Aufgeregt unterhielt ich mich mit meinen Geschwistern, die mit mir in der Packung lebten. Für was werden wir wohl gebraucht? Die Aufregung war gar nicht mehr auszuhalten. Doch dann geschah das Unerwartete, etwas das sich keiner meiner Geschwister jemals hätte vorstellen können. Wir landeten am Boden eines Autos. „Wo sind wir denn da gelandet?“, fragte ein Tempo. „Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht, dass dies hier unsere Bestimmung ist“, sagte ich.
So vergingen einige Wochen, während wir am Boden lagen. Ich hörte den Gesprächen vieler Menschen zu, oft meinten diese auch sie wären in einem sogenannten „Taxi“. „Glaubt ihr, dass wir jemals verwendet werden?“, fragte ein Tempo-Bruder. „Nein, ich glaube leider nicht“, antwortete ich. Die vielen Wochen am Boden dieses Autos hatten auch meine Hoffnung auf Verwendung schwinden lassen. Unsere Packung war jetzt nicht mehr rein, sondern zertreten und schmutzig.
„Ach, was liegt denn da?“, sagte eine freundliche Stimme. Wir wurden aufgehoben. Zuerst hatte ich Angst, aber dann merkte ich, dass wir jetzt unsere Bestimmung kennenlernen werden. Es war ein älterer Herr, welcher schon bessere Tage in seinem Leben hatte. Sein Bart war lang und zerzaust, unter seinen Augen lagen tiefe Ringe, als hätte er seit Jahren nicht mehr richtig geschlafen. Die Kleidung war zerrissen und schmutzig. Doch sein Blick war warm. „Brauchen Sie diese Tempos noch?“, fragte der Mann den Fahrer. „Nein, nehmen Sie ruhig!“
Das war ein aufregender Moment und wir waren nervös. Der Weg fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Ich vernahm alles, ich sah die Straßen, die Menschen, die Pflanzen. Ich fühlte mich zum aller ersten Mal glücklich. Doch plötzlich wurde ich diesem Gefühl entrissen, zuerst erfüllte mich eine Wärme, doch sehr schnell war diese nicht mehr angenehm, sondern schmerzhaft. Meine Ecken wurden schwarz genau wie die meiner Geschwister. Sie schrien. „Aua, das ist nicht unser Daseinszweck!“ Doch ich fühlte nichts von alledem, denn meiner Meinung nach hatte ich ein erfülltes Taschentuchleben gelebt. Ich hatte viel erlebt. Und nun würde ich diesem Mann Wärme spenden. Ich war bereit. Dies ist meine Bestimmung und ich hätte mir keine bessere aussuchen können.
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