Das Leben einer Kiewer Tänzerin
„Die Betrügerin“ von Enrique Jorrín - das sind hundertneun Schläge pro Minute, eine kubanische Hüftbewegung und der dreifache Schritt „Cha-Cha-Eins“. Mein Körper ist Instrument und Kunstobjekt zugleich. Den Rhythmus schlage ich mit der Präzision eines Metronoms, obwohl ich in der Musik nicht mehr Kompetenz habe als in der Gentechnik. Der kurze rote Rock weht, umkreist mich wie ein fetter Lehrerpunk einer halben Note. Pailletten auf der Brust, Federn auf den Schultern. Ich übe die Bewegungen schon seit der vierten Stunde und spüre meine Beine kaum noch.
Kiew, elfter Dezember, Straße Chreschtschatyk 36. Aus dem Himmel rieselt Kalk, das Wetter gehört in die Kategorie „Hundekälte“. Unter meiner Daunenjacke trage ich einen Wollpullover, unter dem Kleidersack meines Freundes stecken Ballkleid und schwarzer Frack. Wir kennen uns seit der Geburt (unsere Mütter lagen im selben Zimmer der Entbindungsstation Nr. 1 im Petschersker Stadtteil), tanzen seit dem Kindergarten und sind seit der Oberstufe ein Paar. Er schlägt die Autotür zu, dreht den Schlüssel im Schloss. Flüstert: „Bist du nervös?“ - doch ich antworte nicht, bin in seine Umarmung abgelenkt. Es ist der erste Wiener Wohltätigkeitsball. Unser Wiener Walzer ist entsprechend perfektioniert. Der weite Rock verbirgt meine Beine, die Drapierung betont die Figur. Die Musik geht ins Blut und macht den Körper geschmeidiger, lebhafter, die Technik weicht der freien Interpretation und fast lateinischen Bewegungen, der Blickkontakt - ich sehe, das Publikum vergöttert uns. Die Harmonie vergeht. Eine Minute Stille wird von begeisterten Stimmen abgelöst, die in widersprüchlichen Obertönen klingen.
(Interessant, warum schreibe ich in der Gegenwartsform? Ich tanze doch schon seit sieben Jahren nicht mehr. )
Die Pandemie schloss die Menschen in den Wohnungen ein. Erst schlossen die Schulen, dann Theater und Kinos. An dritter Stelle der wichtigen Versammlungsorte standen die Sportstätten, und mein Tanzstudio rutschte plötzlich ins Minus. Ich studierte den Online-Markt, doch Tanz - das ist der Moment, die Interaktion, die Berührung. In meinen „häufig besuchten“ Tabs erschien Berufsorientierung, und ich fand meine Nische erneut.
Für den vierundzwanzigsten Februar war ein Geschäftstermin geplant, mit hoher Wahrscheinlichkeit, einen Vertrag zu unterzeichnen. Ich schlief bis Mitternacht nicht, feilte an den letzten Strichen auf dem Bildschirm. Wachte um fünf Uhr morgens auf. Ein ohrenbetäubendes Heulen - der Reiter der Apokalypse - und, noch nicht ganz deutend, griff ich zum Telefon. Der „großangelegte“ Krieg hatte begonnen, denn der „lokale“ dauerte schon acht Jahre. Kriegsrecht, Mobilmachung; ich wollte mit meinem Ehemann ausreisen, doch Männern im wehrpflichtigen Alter war das verboten. Er meldete sich freiwillig zur Armee. Er fiel in Mariupol, fünfundachtzig Tage später.
Und ich - ich fuhr weg. Ich sitze auf den Schultern der Sozialhilfe eines anderen Landes und tanze nicht. Schon seit sieben Jahren.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX