„Das Leben eines Wortes ist ungerecht!“
„Das Leben eines Wortes ist ungerecht.“ Das ist das uralte Sprichwort, dass meine Mutter mir immer wieder vorgebetet hat, wenn ich mich über Dieses und Jenes beschwert habe, die mich in der Volksschule manchmal gehänselt haben. Meine Mutter, Genügsam, ist ein eher ruhiges, relativ anspruchsloses Adjektiv, während mein Vater, Genügen, schon etwas aufbrausender und fordernder ist, was aber auch daran liegen kann, dass er ein Verb ist. Verben brauchen bekanntlich immer etwas Action in ihrem Leben. Er versteht mich und meinen Idealismus besser.
Ich begreife beispielsweise einfach nicht, warum die stärkeren Verben immer die schwächeren mobben, nur weil sie nicht solche Draufgänger sind und sich auch mal an ein paar Regeln halten. Und obwohl Viele das verleugnen, werden auch weibliche Nomen noch vernachlässigt. Statt sich um die echten Probleme dieses Themas zu kümmern, hat man viele männliche Jobbezeichnungen in eine komplett neue Form gezwungen und ihnen /in oder In angehängt, was in der Theorie vielleicht ganz nett wirkt, aber dann doch eher nervig ist. Auch Rassismus ist in unserer Gesellschaft ein großes Problem, man würde es nicht glauben, aber „Anglizismus“ und „Lehnwort“ werden immer noch als Schimpfwörter verwendet!
Ich bin ein ganz normales Pronomen. Als das Kind von Genügsam und Genügen hat man es nicht leicht. Und obwohl ich nicht so schön wie meine Freunde Kontext und Delikt oder so speziell wie Iris und F-Dur bin und auch nicht den Retro-Flair von Obsolet, Sendeschluss oder Fernmeldeamt besitze, habe auch ich meine Besonderheiten. Ich werde oft unterschätzt, weil die Wörter glauben, ich wäre ruhig und unkompliziert. Jedoch habe ich von meinem Vater nicht nur vier Buchstaben geerbt, sondern auch etwas Sturheit. Und was viele vergessen: Wörter kann man auch verneinen. Mein bester Freund Nicht hat dieselben Ideale wie ich und zusammen können wir Allen zeigen, was sie besser machen können! Was nicht genug ist. Nicht genug Essen für Kinder in Afrika. Nicht genug Hilfe für ertrinkende Flüchtlinge. Nicht genug Fokus auf die eigentlichen Probleme. Nicht genug Zusammenhalt in der Politik. Nicht genug Weltoffenheit. Nicht genug Interesse. Nicht genug Freiheit. Nicht genug Frieden. Nicht genug Liebe.
Auch wenn ich alleine bin, muss das noch lange nicht heißen, dass ich den Mund halte. Ich kann auch sagen, was genug ist und was aufhören sollte. Vielleicht bin ich zu langweilig, zu kompliziert oder mit zu vielen Gs bestückt. Aber warum sollte mich das kümmern? Was wirklich wichtig ist, sind die Sätze, die man aus mir bauen kann. Was kann ein Wort schon verändern? Wir alle wollen die Welt verändern. Die wenigsten bewirken wirklich etwas und finden echte Lösungen, oder? Aber so sehr ich abgewetzte Sprichwörter auch hasse, man muss klein anfangen, wenn man etwas bewirken will. Das Leben eines Wortes ist ungerecht, aber das heißt nicht, dass ein Wort wie ich das hinnehmen muss! Falls du mich verwendest, bitte merk dir eines: auch Wörter haben Gefühle!
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