Das Leben leben lassen
Gähnende Leere umhüllte die am Türstock kauernde Silhouette. Die Körperhaltung, welche beinahe schon an eine Embryostellung erinnerte, drückte Schmerz, Leid und Trauer aus. Hals über Kopf hatte sich das Leben von Bryan Harris und seiner Frau Laura, welche nun ebenfalls in der Küche am Boden platznahm, verändert. Salzige Bahnen hatten die Tränen, die zahlreich geflossen waren, auf Lauras zerrüttetem Gesicht hinterlassen. Sie blickte durch den Raum – ihre Küche, betrachtete die Holzverkleidung der Küchenzeile und den Tisch, welcher mit Keramikplatten und kleinen Mosaiken darauf bestückt war. Dann fiel ihr Blick zurück auf den leblosen Körper, der mitten im Raum lag. Das Leuchten in den Augen war erloschen, die Atmung verschwunden. Eine Todesstille schloss ihre langen, eisigen Finger fest um die Kehle des Ehepaars, als wolle sie den Sohn rächen. Steve lag einfach nur da, still, und sein Blut verzierte die Bodendielen, sowie einen Teil der Küchenausstattung, von dem es in einem zähen Faden heruntertropfte und einen immer größeren Blutfleck bildete. Bryan rang mit sich selbst. Sein Körper bebte, seine Hände zitterten. Er hatte seinen eigenen Sohn getötet. Die Erkenntnis darüber traf ihn mit voller Wucht, seine Adern pulsierten, als wären sie Starkstromkabeln, die direkt unter seiner Haut wild umherzuckten. Seine Frau neben ihm war in tiefes Schweigen versunken, das sie wie der Abgrund zur Hölle freudig empfing und hinabriss. Steves Haare, verschwitzt vom Streit, den sie hatten und getränkt von seinem eigenen Blut, klebten ihm an der Stirn fest und umschlossen seine Augen in teuflischer Art und Weise. Doch hatte er den Tod nicht verdient? Gott war gegen Gewalt, doch war er auch gegen Homosexualität, und genau dieser diabolischen Seite hatte sich ihr Sohn hingegeben. Im Wortgefecht hatte er Bryan – seinen eigenen Vater – als intolerant und falsch bezeichnet. Ein Stoß hatte gereicht und er war unglücklich gestürzt. Doch hatte er vergessen, mit wem er gesprochen hatte. War der Tod Gottes Strafe für die Abwege, auf die Steve geraten war? Bryan blickte zu seiner Frau, die ihren gemeinsamen Sohn hart, aber unter dem Gesetz Gottes erzogen und ihn stets geliebt hatte. Sie war nicht mehr Herrin ihrer selbst. Ihre schwarzen Augenhöhlen erinnerten an dunkle Teerklumpen nach einem heftigen Regen, ihr Brustkorb hob und senkte sich in viel zu schnellem Tempo.
„Laura“, flüsterte Bryan seiner Ehefrau zu, „Steve war von einem Gedanken des Satans persönlich besessen gewesen. Gott hielt nur seine schützende Hand über ihn und uns.“
Er tastete nach Lauras Gesicht, doch eine Berührung verhinderte sie, indem sie seine Hand wegschlug. „Nein Bryan“, stotterte sie. Sie rutschte rücklings von ihrem Gatten weg. „Die Homosexualität hat ihn nicht umgebracht. Er war nach wie vor derselbe, wollte nur sein eigenes Leben leben und das so, wie es für ihn in Ordnung ging. Nicht die Homosexualität hat dir deinen Sohn genommen, dein Unverständnis kostete ihm das Leben.“
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