Das Licht am Ende des Tunnels
Die Schlieren waren tief. Tiefer als beim letzten Mal. Noch immer lief das Blut in zähen, langsamen Bahnen erst seine Wange, dann sein Schlüsselbein entlang, bis es schließlich in seinem schwarzen T-Shirt verschwand. Wahrscheinlich klebte es an einigen Stellen schon an seiner Haut. Vielleicht war es auch noch ganz warm und schmiegte sich an seine Schulter.
Als würde das ohnehin etwas bedeuten.
Er ging nicht duschen wie sonst. Er versuchte nicht, sich die Spuren vom Körper zu schrubben, bis seine Haut genauso rot schimmerte wie das Blut wenige Sekunden zuvor.
Diesmal setzte er sich auf sein Rad. Der Mond lag in dieser Nacht wie eine Verheißung dicht hinter den Wolken versteckt. Bis auf die einsame Laterne am Ende der Gasse war es stockdunkel.
Gut so, dachte er sich.
Alles war gut so, wie es war.
Nein. . . alles war gut so, wie es war. Nicht wie es ist.
Für einen Moment schloss er die Augen. Ließ seine Gedanken zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an den Moment zurückwandern, in dem alles begann.
Zuerst waren es nur gerötete Wangen, die zwar brannten, aber ohne Spuren verschwanden. Dann machte er den Fehler zu schreien – und wurde in der Schule mit Blicken gepeinigt, als man seine blauen Wangen sah.
Irgendwann hatte er aufgegeben, den Hoodie immer höher zu ziehen, wenn ein Lehrer vorbeikam. Weil es doch sowieso niemanden interessierte.
Doch es hörte nicht auf. Egal, was er tat oder sagte – sein Körper diente als Boxsack für ihre Emotionen.
Sie waren schlecht gelaunt?
Ein Schlag.
Er brachte schlechte Noten mit nach Hause?
Zwei Schläge.
Sein Handeln entsprach nicht ihren Wünschen?
Drei Schläge.
Er sauste um die nächste Kurve. Sein T-Shirt war nun nicht mehr nur blutdurchtränkt, sondern auch vollgeschwitzt.
Seine Lunge stach, forderte Luft – doch er atmete nur stoßweise aus und wieder ein. Gerade genug. Gerade genug, um zu leben.
Doch was heißt so ein Leben schon?
Was bedeutet so ein Leben überhaupt?
Seine Waden brannten, so heftig trat er in die Pedale.
Die Bremse? An sie verschwendete er keinen Gedanken.
Die gab es schließlich im echten Leben auch nicht.
Immer nur Tempo, Tempo, Tempo.
Bis es einen umbringt.
Oder bis der eigene Körper die Seele umbringt. Oder besser gesagt: bis der Körper nicht mehr standhalten kann – und die Seele verwelkt.
Plötzlich war er auf der Autobahn.
Er war einfach abgebogen, ohne nachzudenken.
Fuck.
Die Autos rasten nur so an ihm vorbei. Sein Blick verlor sich in ihren Scheinwerferlichtern, bis er irgendwann nur noch den Tunnel sah, auf den er geradewegs – mit all den anderen Menschen in ihren beheizten Autos – zuraste.
Dann sah er das Licht am Ende des Tunnels,
und er wusste:
Er hatte es geschafft.
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