Das Lied von Furcht und Angst
Die Tür fällt ins Schloss. Monate der Angst, Stress und Panik. Es ist vorbei, sie hat es überstanden. Je länger die Qual, desto schneller die Flucht, wenn du dich dafür entscheidest. Ein pochendes Hämmern in der Brust, das die Wucht eines Presslufthammers hat. Nicht mehr, nie mehr. Sie muss Angst nicht mehr sehen.
Auf den Straßen ist nicht weniger los als sonst, trotzdem fühlt sich alles leicht an. Sie schiebt sich durch die Mengen, drängt sich an den Körpern vorbei und spürt nichts außer purer Zufriedenheit. Bei der Kreuzung schießen ihr zum ersten Mal seit Langem keine Gedanken durch den Kopf, sie kann konzentriert auf das rote Männchen blicken und sich wünschen, dass es grün wäre. Im Einkaufszentrum macht ihr die Musik nichts mehr aus, sie tanzt zur Melodie und freut sich, dass ihr die Schritte einfallen. Die grauen Gesichter um sie herum nimmt sie gar nicht wahr, ihr geht es gut. Zum ersten Mal seit Langem.
Sie möchte ihr Lächeln und ihre Leichtigkeit mit der Welt teilen. Das hat sie seit Langem nicht mehr gemacht, aus Angst, die könnten sie ihr wegnehmen. Was sie dabei nicht bedacht hat, ist, dass es nichts zum Wegnehmen gab.
Heute möchte sie wild und jung sein. Sie möchte nicht mehr, sie wird. Ein Scheinwerfer ist auf sie gerichtet wie ein Sonnenstrahl. Sie hebt sich ab von der Masse, die mit zusammengefallenen Schultern dem Feierabend entgegenschreitet. Am Ende weiß sie nicht, was es gebraucht hat. Auf jeden Fall einen Anfang, sonst wäre sie jetzt nicht hier. Sie muss Hürden überwunden haben, war aber zu beschäftigt, die nächsten zu sehen, als das zu bemerken.
Die Angst trägt ein graues zerrissenes Kleid und hat wilde Augen, denen man nicht entkommen kann. Sie ist ihre treuste Weggefährtin, ihre älteste Freundin und war die einzige Rettung vor ihr selbst. Dank ihr hat sie das Haus nicht verlassen, dank ihr hat sie ihren Vater nicht zurückgerufen, als er um Hilfe bat, dank ihr hat sie sich abgemeldet von den Prüfungen, die sie nicht auf Anhieb schaffen würde. Sie hat ihr viel mitgegeben, sie ist ihr nie von der Seite gewichen. Sie hat ihr die Haare gehalten, wenn sie panisch wegen ihr kotzend über der Kloschüssel gehangen ist.
Jetzt ist sie weg. Einfach so, puff, verschwunden. Wahre Einsamkeit lernt man erst kennen, wenn man das Alleinsein überwunden hat. Die zischende Stimme in ihrem Ohr ist verstummt, die kalten Finger an ihrer Kehle drücken nicht mehr zu.
Die Welt steht ihr wieder offen, sie kann gesehen werden und wird sehen. Einsam, aber nicht allein, so möchte sie jetzt nimmer sein.
Ihre dunklen Strähnen fallen in großen Stücken auf den klebrigen, gelben Linoleumboden. Sie fallen wie Schneeflocken und zerstäuben in kleine Häufchen, die einen Teil ihres Lebens ausgemacht haben, den sie abschabt, nicht mehr haben möchte. Angst hat ihr durchs Haar gestrichen. Hat ihr die Strähnen nervös ins Gesicht geschnippt. Ihre neuen Haare wird sie nie berühren.
Das Sonnenlicht fühlt sich immer noch fremd an auf ihrem blassen Gesicht. In ihrer Magengegend wird es warm, das Wort liegt ihr auf der Zunge. Genuss, es zieht sich in die Länge und schmilzt die Unruhe fort. Die Suche nach neuen Freunden kann heute beginnen, sie hat kein Interesse daran, zu ihrer alten besten Freundin zurückzukehren. Eine Erkenntnis, die sie früher nie zu haben gewagt hätte.
Der Zug ist klimatisiert, ihre Sitznachbarin, eine strickende Frau, sieht verträumt aus dem Fenster. Die Abdrücke der Angst sind ganz schwach auf ihrem Hals erkennbar, sie scheint ein gutes Leben zu führen. Der Teenager vor ihr steckt sich die Kopfhörer ins Ohr, umgeben von einer grauen Wolke. Ein Wunder, dass er noch etwas von seinem Alltag mitbekommt, vernebelt von Angst. Man müsste einen Staubsauger erfinden, der sich an die Male haftet und zieht, bis sie endlich bereit sind den Ballast abzugeben, um neuen entgegennehmen zu können. Sonst verklebt man, so wie sie. Aber jetzt nicht mehr, ihr geht es gut, zum ersten Mal seit Langem.
Angekommen beschließt sie zu Fuß zu gehen. Sie wird sich kein Taxi rufen, sie wird das Hotel nicht googeln. Heute sind ihre Augen dran und sie konzentrieren sich verzückt auf jedes Detail. Der Nebel hat sich gelüftet und ihre Wahrnehmung verschiebt sich von ihr selbst auf die Welt und sie erkennt, dass es dort viel schöner ist, als es in ihr jemals war.
Das Chili prickelt auf ihrer Zungenspitze. Tränen schießen ihr in die Augen, sie röchelt, hat aber nicht mehr das Gefühl, ersticken zu müssen. Man könnte ein Haus auf ihrer Brust bauen, ihr Herz ist so leicht, sie würde trotzdem schweben. Angst hasst scharfes Essen, die Gewürze rufen die gleiche körperliche Reaktion hervor wie sie. Niemand möchte gerne ersetzt werden, niemand möchte nicht zu gebrauchen sein. Niemand möchte niemand sein, außer ihr. Aber jetzt nicht mehr. Heute geht es ihr wieder gut, zum ersten Mal seit Langem.
Der Tag neigt sich dem Ende zu, sie verfällt aber nicht in die typische Apathie und fürchtet sich nicht schon vor dem nächsten. Sie tanzt und lacht, taucht die Füße ins Meer, denkt nicht an Quallen und Krebse, Strömungen und tödliche Kälte. Sie denkt an sich, glücklich.
Angst war immer für andere Menschen da. Sie hat sich immer aufgeteilt, sie aber bewusst eifersüchtig gemacht. Aber Angst hat ihr jeden Tag bewiesen, wie wichtig sie ihr war.
Die Eifersucht ist vergessen, für andere da zu sein, ist nicht mehr relevant für sie. Sie will sich lösen von allem, was Angst gemacht hat, was sie für und mit ihr gemacht hat. Ihre nackten Füße klatschen auf den Asphalt, der ist schmutzig, eine bloße Gefahrenquelle. Aber dieser Gedanke kommt ihr nicht in den Sinn. Ihre Sinne sind so fokussiert wie nie, vielleicht mussten sie erst getrübt werden, damit sie versteht, was sie gewonnen hat.
Am Ende mag der Wind falsch gestanden sein oder der Mond hat sich nicht an seinen Zyklus gehalten oder es war alles nur ein Traum. Am Ende ist das nicht wichtig, was zählt ist, es war ein Augenblick, der die Blase zerplatzen ließ, die sie sich gebaut hat. Nur ein Augenblick. Nicht mehr. Sie steht vor der verhassten Tür, starrt sie an. Dann kommt Angst um die Ecke, steckt den Schlüssel in das Loch und öffnet die Tür.
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