das Lochvon Nathalie Geislinger
Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Der Mann im Blumenpyjama hatte die letzten 23 Minuten damit verbracht, seinen Flurteppich aufzuwühlen. Und dennoch konnte er dieses Gefühl nicht abschütteln. Es plagte ihn, seitdem er aufgewacht war. Er hatte versucht, es loszuwerden. Zwecklos. Also tat er das, was er jeden anderen normalen Sonntagmorgen so tun würde. Er putze seine Zähne, löste sein Kreuzworträtsel und trank seinen Kaffee. Doch das Gefühl wollte nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil, es schien, als ob es sich regelrecht an den Mann klammerte und nicht loslassen wollte. Er warf einen Blick nach draußen und sah die einfallenden Sonnenstrahlen, die seinem Balkon einen warmen Farbton verliehen. Es war ein schöner Tag. Wenn ein anderer Tag so schön gewesen wäre, dann hätte der Mann vielleicht sogar einen gemütlichen Spaziergang im Park gemacht und sich anschließend einen Toast mit Kräuteraufstrich in seinem Lieblingscafé bestellt. Doch heute war anders. Der Mann im Blumenpyjama wusste nicht, wie ihm geschah. Das Loch wuchs stets, als ob seine Bemühungen genau das Gegenteil von dem erreichten, was er zu bezwecken versuchte.
Der Mann saß auf einer Parkbank und beobachtete, wie die vom Regen hinterlassene Pfütze sich bewegte. Er starrte so lange, bis seine Augen brannten. Doch er konnte keine Regelmäßigkeit in den Bewegungen des Wassers feststellen. Um genauer zu sein, konnte er keine Bewegung wahrnehmen, bis der Wind kam und die Form der Pfütze entstellte. Der Mann verstand die Welt nicht mehr. Er war sich sicher, auf alles geachtet zu haben. Hatte er doch irgendetwas übersehen? Er konnte schlichtweg nicht finden, wonach er suchte. Denn den Gesang der Vögel fand er zwar schön, doch er konnte ihn nicht verstehen, und wenn er auf die gefallenen Blätter trat, dann taten sie ihm leid, doch nichts mehr. Er wünschte sich, dass das Gefühl einfach verschwinden würde. Dieses Loch in seiner Mitte, das ihn langsam zu konsumieren drohte, das Loch, das nie satt war. Dem Mann lief es kalt über den Rücken. Er wünschte, er hätte eine Lupe, um die Pfütze genauer zu betrachten. Er wünschte, das Wasser wäre weiter und er wäre etwas kleiner, damit er es besser sehen könnte. Er stand auf, hockte sich neben die Pfütze und führte sein Gesicht ganz nah an sie heran. Die alte Dame und ihr Schoßhund auf der gegenüberliegenden Bank beäugten den Mann. Wie vom Blitz getroffen sprang er auf.
Sobald sich die Tür des Zuges öffnete, war ein eisiger Wind zu spüren. Der Mann hielt seinen Hut fest und zog seinen Mantel enger um sich, während er sich durch die Menschenmenge kämpfte. Mit Mühe hob er seinen Kopf, um die Wegweiser zu betrachten. Doch er fand nicht, wonach er suchte. Er lauschte den Durchsagen, doch sie redeten alle nur von Zügen und Haltestationen. Der Mann seufzte. Was sollte er nun machen? Ratlos drehte er sich im Kreis. Er sah etwas und blieb stehen. Da. Ein blaues Schild. „Meer“. Der Mann konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er war nun schon lange nicht mehr hier gewesen. Festen Schrittes machte er sich auf den Weg und bemerkte, dass der ursprüngliche Schotterpfad mittlerweile aus festem Teer bestand. Er ging weiter und spürte den ansteigenden Wind und die Sonne auf seinem Gesicht. Einen Schritt nach dem anderen. Dann sah er die Klippe, die sich fast wie ein Pfeil aus der restlichen Landschaft erhob. Der Weg ging zu Ende, doch der Mann hielt nicht an. Er ging immer weiter, bis er ganz oben war. Denn nur ganz oben konnte man das Meer sehen. Der Mann atmete tief ein. Obwohl er fror, schlüpfte er aus seinem Mantel und breitete ihn auf dem Gras aus. Er setzte sich nieder und sah den Wellen zu, er beobachtete wie sie kamen und immer größer wurden, und wie sie schlussendlich an den Klippen zerschellten. Er hätte hier stundenlang sitzen können. Denn in diesem Augenblick, in dem der Wind die Gischt fast bis zur Nasenspitze des Mannes wehte und er das Gras unter seinen Händen spürte, hatte er fast vergessen, dass ihm je etwas fehlte. Er blickte an sich hinunter und sah, dass das Loch beinahe auf die Größe einer Murmel geschrumpft war. Und als er es bat, zu gehen, da schloss es sich dem Wind an und er sah das Loch nie wieder.
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