Das Nichts
Alles, woran ich mich erinnern kann, ist ein Bett. Ein Bett aus weiß lackiertem Metall mit hellblauen Überzügen. Menschen mit blauen Masken vor dem Gesicht und immer hektischeren Stimmen. Das leise, immer schwächer werdende Pochen, das ich vernahm, verstummte abrupt, gefolgt von einem lauten Piepsen. Danach war es so, als ob ich in einen tiefen Schlaf gefallen wäre. Nur, dass man danach normalerweise nicht in einer unendlichen, schwarzen Leere aufwachte. Ich konnte bis ans Ende der Schwärze um mich herumblicken. Nur, dass es kein Ende gab.
All meine Sinne waren mit einem Mal nicht mehr vorhanden. Auch sprechen konnte ich nicht. Ich führte die Gespräche in meinem Kopf. Das Einzige, wozu ich noch fähig war, war atmen, nur atmen. Die bloße Vorstellung daran, hier die Ewigkeit zu verbringen, ließ mich im Inneren erschaudern. Mit der Zeit konnte ich mich an Bruchteile meines früheren Lebens erinnern. Das Schlimmste waren die Erinnerungen an die Menschen, die man geliebt hatte. Die kleinen Tiefen in meinem früheren Dasein kamen mir nun so lächerlich vor. Ich fragte mich, ob meine Freunde und Familie auch schon so wie ich gestorben waren. Und wenn ja, teilten sie dann dasselbe grausame Schicksal wie ich?
Aber die Frage, die ich mir wohl am häufigsten stellte, war: Wie hatte ich das alles hier verdient?
Zu meinen Lebzeiten glaubte ich an ein Nachleben im Himmel oder in der Hölle. War das hier die Hölle? Diese unerträgliche Stille, diese Dunkelheit, diese Einsamkeit?
Dann bemerkte ich ein winziges Licht. Ich überlegte, wie ich dieses Licht erreichen könnte. Ich stellte mir vor, wie sich zu meinem Bewusstsein ein Körper bildete und wie ich zu dem Licht rannte. Ich blickte an mir herab und beobachtete, wie langsam ein Körper unter mir entstand. Ich verlor keine Zeit, ich rannte so schnell ich konnte, bis ich schließlich vor einer Lichtkugel stand. Ich berührte sie und sah für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht meiner Mutter. Ich hatte sie von einigen Erinnerungen erkannt. Ich zog die Hand hastig von der Kugel. Trotz meiner Angst, was ich zu sehen bekommen würde, glitt meine Hand auf das Licht zurück. Ich sah mich am Lenkrad eines Autos sitzend und meine Mutter als Beifahrerin. Dann ein Unfall. Ich sah wieder das Bett und die Menschen mit Masken. Doch diesmal war es anders, ich sah ein zweites Bett. Darin war meine Mutter, dann ein Pieps-Geräusch. Erst einige Minuten danach wurde mir schwarz vor Augen. Jetzt bemerkte ich etwas in der Dunkelheit auf mich zukommen. Es war meine Mutter, die mich in den Arm nahm. Sie umfasste meine Hand und führte mich zu einer Tür. Jetzt verstand ich. All das war die Selbstisolation gewesen wegen der Schuld, die ich am Tod meiner Mutter verspürte. Sie sah mich noch einmal an und verschwand dann hinter der Tür. Ich überlege, ob ich es nicht verdient hätte hierzubleiben, bis eine Stimme hinter der Tür mir zuflüsterte: „Ich liebe dich, Kind, dich trifft keine Schuld“, und dann durchschritt auch ich die Tür.
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