Das Rauschen des Windes
Der Wind blies kräftig über die Wellen und brachte eine Vielzahl an Geschichten mit sich. Der Wind hatte Wut erlebt, Wut, die er ausdrückte, in dem er die Plastikstühle auf dem Schiffsdeck umblies. Er hatte Liebe erlebt, Liebe, die er weitergab, in dem er Hoffnung brachte, denjenigen Geschichten erzählte, die zuhörten. Und er hatte Leben erlebt, Leben, das er selbst weiterverbreitete.
Auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffes stand ganz allein eine alte Frau, an der Reling angelehnt, schaute sie hinaus auf das dunkle Meer. In der Dunkelheit sah sie zurück auf ihr langes Leben, auf alle Erinnerungen, auf ihre Vergangenheit. In Gedanken versunken, lächelte sie leicht. Auf einmal betrat auch ein kleines Mädchen das Deck und stürzte sich begeistert auf die Reling, um das dunkle Meer zu betrachten und den Wind zu genießen. In der Dunkelheit sah sie die Weite ihrer Zukunft: Noch so viel lag vor ihr.
Die alte Frau näherte sich langsam dem Mädchen und fragte: „Möchtest du dich vielleicht kurz zu mir setzen?“ Sie deutete auf einige Stühle hinter ihnen, die, weil sie geschützt vor dem Wind standen, nicht umgeblasen worden waren. Das Mädchen stimmte zu und kurz darauf saßen sie schon nebeneinander und beobachten gemeinsam, wie sich das Schiff immer weiter seinen Weg durch das Meer bahnte. Mit einer so leisen Stimme, dass man sie kaum hören konnte, sagte die alte Frau: „Die Welt ist ein Rätsel, welches niemand je voll und ganz erfassen wird, nicht wahr? Darüber bin ich sehr froh.“ Kurz hielt sie inne, jedoch nicht um eine Antwort abzuwarten, denn gleich darauf fuhr sie fort: „Ich werde bald sterben. Ich liebe das Leben, so wie du, jedoch bin ich so neugierig auf die Ungewissheit. Hach, wie ich Rätsel und deren Auflösung liebe.“ Das Mädchen antwortete erfreut: „Ich liebe Rätsel auch sehr! Besonders die, wo man ganz lange überlegen muss. Bis jetzt konnte ich fast alle aus meinem Rätselheft selbst lösen!“ Die Frau lächelte und sagte: „Du hast noch viele Rätsel vor dir. Gib nicht auf, wenn du sie nicht gleich lösen kannst, ja?“ Das Mädchen versprach hoch und heilig, immer ihr Bestes zu geben. Danach erzählte das Kind fröhlich, dass sie im Urlaub eine riesige Muschel gefunden hatte. „Danach habe ich die Muschel aber wieder zurück ins Meer gelegt, weil eine Krabbe darin gewohnt hat. Ich glaube, die Krabbe war sehr froh darüber“, sagte das Mädchen zum Abschluss.
Gleich darauf kam die Mutter des Mädchens, um ihre Tochter wieder zurück ins Bett zu bringen. Kurz bevor sie das Deck verließen, drehte sich das Kind zu der alten Dame um und rief zum Abschied: „Auf Wiedersehen!“ Die Frau lächelte, zog ihre Jacke enger um ihren Körper und sagte leise durch das Rauschen des Windes: „Gute Nacht.“
Der Wind blies kräftig über das Land und brachte die Geschichte einer alten Frau mit sich, die endlich eines der größten Rätsel überhaupt lösen durfte. Der Wind blies kräftig und brachte dem kleinen Mädchen ihre eigene Geschichte und Rätsel, die noch zu lösen sind.
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