Das Rennen gegen die Vernunft
*Peng* und das Rennen beginnt. Ellenbogen, Fingernägel, Kniescheiben. Alles spüre ich an meinem Körper, das Drängeln, Schupsen, Stoßen. In dem Chaos lerne ich den Geschmack fremder Haare kennen – nicht sehr empfehlenswert… Vielleicht schmecken sie mit Ketchup besser? Ich verziehe mein Gesicht zu einer unschönen Grimasse, hoffe, dass mich gerade niemand fotografiert und spucke den grauenhaften Kopfsalat aus. Nun beginnt sich das Gedrängel zu verringern, die Schnellen erzielen ihre ersten Abstände, die Langsamen fallen zurück. Meine Beine kämpfen sich den Weg nach vorne, überholen dreist eine junge Frau mit blau gefärbten Haaren und rennen sich wund und müde. Während ich laufe setze ich mir ein Zeil: Ich will in die Top 3! Ich kneife meine Augen zusammen, beschleunige ein kleines bisschen und nehme den momentanen Platz 3 ins Visier. Es handelt sich um einen recht sportlich aussehenden Mann. Der Abstand zwischen uns wird kleiner – immer kleiner – bis wir auf gleicher Höhe sind und ich schließlich seinen Platz einnehme. In mir spüre ich ein Feuer brennen, das mich vorantreibt. Der dritte Platz ist aber so schlecht. Keiner spricht über den Drittplatzierten. Wenn dann sprechen sie über den mit der Silbermedaille. Ein Blick nach vorne verrät mir, dass der Zweite gar nicht so weit weg ist. Wenn ich noch ein kleines bisschen mehr beschleunige, könnte ich vielleicht von Bronze zu Silber übergehen. Mit diesem Ziel im Kopf peitsche ich meine Beine vorwärts. Ein Schritt nach dem anderen, ein Atemzug folgt dem vorigen, ein Herzschlag übertönt den Vorgänger. Ich rieche bereits den süßen Duft einer silbernen Medaille, stelle mir verträumt vor, wie sie wohl um meinen Hals aussehen würde. Dann sehe ich vor mir den ersten Platz und noch ein Stückchen weiter vorne blitzt mir das Ziel entgegen. Was habe ich mir nur eingebildet? Den zweiten Platz wird doch keiner auch nur ansehen. Wer interessiert sich schon für den zweiten Platz? Der einzige, der wirklich zählt, ist der mit der Goldmedaille. Vor mir rennt jemand mit gräulichen Haaren. Diese Frau ist bestimmt schon recht alt. Es wäre also eine richtige Blamage gegen sie zu verlieren. Ich muss sie überholen, mit allen Mitteln, all meinen Kräften! Die gequälten Schreie meiner Beine ignoriere ich, auch das ständige „Ich kann nicht mehr“ meiner Lunge stört mich in diesem Moment nicht. Mein Ziel ist noch nicht erreicht, ich muss noch schneller, besser werden. Schneller! Besser! Schneller! Besser! Schneller! Besser! Die Zielgerade liegt direkt vor mir, die Frau schnauft auf meiner linken Seite. Komm schon! Das kann ich noch schaffen! Noch einmal Gas geben. Schneller! Besser! Schneller! Aus.
Zwei Tage später lese ich in der Zeitung über meinen Sturz, meine Verletzungen, mein Scheitern. Meine Augen überfliegen die letzten Zeilen: „Die Goldmedaille durfte somit die Natur mit Startnummer 1 davontragen und an letzter Stelle finden wir die Menschheit mit Startnummer 35“.
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