Das rote Kleid
„Geh, schau mal, was ich dir mitgebracht hab!“, sagte meine Mama, während sie strahlend ein edles, eng geschnittenes rotes Kleid hochhielt.
Ich zwang mir ein Lächeln auf das Gesicht und hielt es mir an den Körper. Zu lächeln tat weh.
„Dankeschön! Ich freu mich schon richtig darauf, es zu tragen.“, sagte ich voll falscher Wärme, weil ich wusste, dass sie das hören wollte. Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts.
Ich entschuldigte mich höflich und ging hinauf in mein Zimmer.
In der Ecke stand ein großer weißer Schrank. Ich hängte das rote Kleid hinein, auf die rechte Seite. Auch wenn ich kein ordentlicher Mensch war, gewisse Systeme mussten sein. Die linke Seite war für das Gewand, in dem ich mich wohl fühlte, das ich mir selbst ausgesucht hatte.
Die andere Seite war Gewand, das von mir erwartet wurde, meine Schuluniform, diverse Kleider, feine Mäntel und Röcke.
Neben meinem Schrank hing ein Spiegel. Er hatte weiße Schnörksel und Ornamente wie im Barockstil. Meine Mutter hatte ihn ausgesucht.
Ich sah in den Spiegel und ein hübsches Mädchen mit langen Haaren und dichten Brauen blickte mir entgegen, ein bekannter Anblick, dennoch fremd.
Ich nahm sorgfältig meine Brüste in die Hände, um mich gut und schön und richtig zu fühlen.
Ich drehte mich hin und her, wie all die Male davor und ignorierte bewusst dieses eine Wort, das in meinem Hinterkopf herumtanzte und spöttisch meine Aufmerksamkeit verlangte.
Möglicherweise sollte ich dem Kleid doch einen Versuch geben. Wieder holte ich es hinaus und schlüpfte hinein. So eng war der Stoff, so weiblich und fließend und dünn. Ich fühlte mich nackt und ausgestellt und lächerlich.
Hoffentlich sehen die Nachbarn nicht herein, dachte ich und zog die Vorhänge zu. Verdammte Mutter.
Bilder von lachenden Mitschülern durchzuckten meinen Kopf, Mädchen und Jungen, verächtliche Gesichter, die sich mir zuwandten, die Enttäuschung auf dem Gesicht meiner Mutter.
„Was ist nur aus meiner kleinen Prinzessin geworden“, würde sie unter Tränen fragen, nach einer Prinzessin fragen, die es nie gegeben hatte.
Spielte all das wirklich eine Rolle? War ich nicht normal, so wie ich war und alles war perfekt?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie oft war ich schon hier gestanden, vor diesem kitschigen Spiegel.
Ich hob meine Haare hoch, sodass sie ganz kurz aussahen. Von neuem betrachtete ich mich. Es war ein Druck in mir und auf mir, er machte mich wahnsinnig, als wäre ich geradezu kurz davor, in tausend Stücke zu platzen. „Ich bin ein Freak.“, flüsterte ich zu mir selbst, weil ich wusste, dass es das war, was man von mir denken würde. „Freak, Freak, Freak“, hallte es in meinem Kopf.
„Stell dich darauf ein“, sagte ich leise, während das Wort in meinem Kopf hin und her flog, bis mir die Tränen in die Augen traten und in Strömen mein Gesicht hinunterliefen.
Ich hatte schon längst eine Entscheidung getroffen. Ich konnte mich nicht länger verstecken, verstecken im falschen Körper.
„So bin ich.“, sagte ich zu meinem Spiegelbild und schnitt meine Haare kurz.
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