Das Schwarz im Grau
Ein Augenblick darf höchstens drei Sekunden dauern, damit es auch wirklich als Augenblick zählt, sagten sie. Und doch kann er alles verändern.
Ihr Blick richtet sich auf ihren Verlobten. Es war ein Vertrag. Wer glaubt schon noch an Liebe in dieser Welt. Ihre Eltern wollten, dass sie heiratet. Mit 19. Einen Fremden, der Geld hat. Sie war verärgert, verbittert… enttäuscht. Aber was soll sie tun. Sie braucht ihre Unterkunft von ihren Eltern bezahlt. Sie hasste es dort. Ihre Eltern hassten sie. Wobei, ihre Mutter hasste sie! Ihrem Stiefvater war sie egal. Sie war nur eine der vielen „Teenieversuche“ ihrer Mutter. Niemandem wichtig. Von ihrem biologischen Vater wusste sie nichts. Wahrscheinlich wusste nicht einmal ihre Mutter, wer es ist.
Nun steht die 19-Jährige vorne am Altar gegenüber ihres 23-jährigen Bräutigams. Man konnte Qual und Leid in seinen Augen sehen. Sie war nur noch emotionslos. Sie spürte nichts, fühlte nichts. . . wobei sie in diesem kurzen Moment überlegte das alles noch einmal zu hinterfragen. Denn sie spürte etwas. Ganz klein, ganz weit hinten in ihrem Kopf, hinter leeren Gedanken und toten Emotionen sprühte ein Fünkchen Mitleid. Ist es für ihn? Oder für sie? Er heißt Jayden. Und sie? Sie hat keinen Namen. Niemand nennt sie bei ihrem Namen. Manchmal liest sie dieses Wort. Taiga. Weil sie irgendwo in der Nähe Russlands geboren wurde. Angeblich. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Taiga findet nicht, dass sie russisch aussieht. Sie weiß nicht, wie sie findet, dass sie aussieht. Ihr war es egal. Früher wollte sie es immer wissen. Früher wollte sie die Welt sehen. Früher wollte sie heiraten. Heute hatte sie vergessen zu wollen. Sie hatte es jeden Tag vergessen, seid ihr klar wurde, ihre Mutter nicht wollte, dass sie will. Und nun will sie nicht mehr. Sie hat vergessen, wie es geht etwas zu wollen. Jayden hat nicht vergessen zu wollen. Er hat auch nicht vergessen zu hoffen. Und er hat nicht vergessen zu glauben. Und deshalb tut es weh. Das Müssen. Das Gehorchen. Das Schweigen, obwohl er schreien wollte, das Dunkel ohne Licht. Er will nicht, dass es ihm egal ist, aber er dachte, vielleicht wäre es einfacher so. Dann tut es weniger weh. Er weiß das. Er sieht es in Taiga's Augen und in denen des Mannes, der am Eingang steht und sich nicht traut einzutreten. Und in denen seiner Stiefmutter. Jayden sieht das Glitzern der Hochzeitsringe. Taiga sieht es nicht. Sie hat aufgehört zu Sehen. Jayden hört die Versprechen. Taiga hört sie nicht. Sie hat aufgehört zu Hören. Jayden fühlt die weiche Haut der Hände der hübschen Frau in seinen. Taiga spürt die Rauen ihres Verlobten nicht. Sie hat aufgehört zu Fühlen. Jayden spürt den Schmerz dieser Wahrheit: er steht vor einer fremden Frau, bei der sein Vater erwartet, dass er sie heiratet. Taiga spürt den Schmerz der Wahrheit nicht.
Zweimal „Ja“ zu sagen, dauerte keine drei Sekunden. Ein Schuss auch nicht. Taiga kippt. Ihre Welt wird schwarz. Seine grau. Dieser Augenblick wird so viel verändern.
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