Das Spiel mit dem Tempo
Ich liebte es. Das Geräusch, wenn der Motor ansprang. Der sanfte Stoß, mit dem ich losfuhr. Der Fahrtwind, der alle negativen Gedanken aus meinem Kopf bließ. Das Gefühl der Freiheit. Ich liebte es. Ich liebte es, ausnahmsweise das Gefühl zu haben, ich könne kontrollieren, was um mich herum passiert. Ich entschied, welche Strecke ich fuhr, aber noch wichtiger: ich kontrollierte das Tempo. Jedenfalls dachte ich das.
„Wie lange denn noch?“ Die Lateinstunde fühlte sich immer wie mindestens eine Doppelstunde an. In diesem Moment klingelte die Glocke. Wurde auch langsam Zeit. „Ey Flo, kommst du gleich ne Runde fahren?“ Mein bester Freund Leo liebte das Motorradfahren genauso wie ich. Wir verabredeten uns bei unserem gemeinsamen Treffpunkt, der Landstraße außerhalb der Stadt.
„Mama, ich geh kurz mit Leo fahren!“ „Okay, aber fahr nicht zu schnell! Pass auf dich auf, ja?“ Meine Mutter schaute mich besorgt an. Ich verdrehte innerlich die Augen. Es hatte zwei Jahre tägliche Diskussionen gebraucht, bis meine Eltern zugestimmt hatten, mich Motorrad fahren zu lassen. „Jaja, ich pass auf.“
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Es war ein warmer Sommerabend. Die Sonne, die gerade noch über den Bergen zu sehen war, tauchte die ganze Landschaft in ein orangefarbenes Licht. Ich startete den Motor meines Motorrads und fuhr raus aus der Stadt.
Schon von weitem sah ich Leo, der schon wartete. Wir fuhren zusammen die Landstraße entlang die Berge hinauf. Ein berauschendes Glücksgefühl erfüllte mich. Leo zwinkerte mir zu und beschleunigte. Wir fuhren auf unseren Lieblingstunnel zu: ein langer, breiter Tunnel, in dem man perfekt beschleunigen konnte. Ich gab kräftig Gas, um Leo zu überholen. Der ließ sich das jedoch nicht gefallen. Ein flüchtiger Blick auf das Tacho zeigte mir, dass wir inzwischen mit 100km/h durch den Tunnel fuhren. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Ich driftete nach links und beschleunigte weiter. Ich fuhr nun fast neben Leo. Er grinste mich breit an.
Plötzlich ertönte ein lautes Brummen. Ein breiter Ferrari raste um die Kurve. Hastig zog ich den Lenker nach rechts und bremste, doch es war zu spät. Das Motorrad kam ins Schleudern. Es warf mich vornüber, ein stechender Schmerz, dann wurde alles schwarz.
Langsam versuchte ich meine Augen zu öffnen. Alles tat mir weh. Mit tränenerstickter Stimme erklärte mir meine Mutter, was passiert war.
Die Zeiten haben sich geändert. Der Rollstuhl ist jetzt mein Fahrzeug und was noch schlimmer ist: Das Tempo kontrolliert mich.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX