Das unendliche Meer ihrer Gedankenvon Lea Dalfen
Langsam, ganz langsam schließt sie ihre Augen.
Schon stürzt sie hinein, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Hinein in das unendliche Meer ihrer Gedanken. Von allen Seiten drängen sie wie wild auf sie zu, schreiend und kreischend. Erinnerungen, unerfüllte Hoffnungen, Fantasien.
Sie sind wie die nie enden wollenden Wellen an der Küste, die mit tosendem Lärm stetig an den Felsen brechen. Wassertropfen wie einzelne Buchstaben und Wörter spritzen ihr kalt in ihr Gesicht, der Sand unter ihren Füßen ist aufgewühlt. Ihre Sicht ist verschwommen, verwischt von all den Eindrücken.
Zu viel.
Zu viel auf einmal.
Zu viele Emotionen, die ihr Herz fühlen muss.
Zu viele Bilder, die ihre Augen aufnehmen müssen.
Sie wird mitgerissen von den Strömungen, die unter der Meeresoberfläche lauern und unbemerkt die Tiefen beherrschen. Die man erst sieht, wenn es bereits zu spät ist und man sich nicht mehr befreien kann.
Erfolglos versucht sie, sich aus dem Strudel von Gedanken und Fantasien zu befreien. Wie eine Ertrinkende hält sie sich an allem fest, was ihr zwischen die Finger kommt.
Wo?
Wo bleibt die Erlösung?
Sie möchte zur Ruhe kommen, ihren eigenen Gedanken entfliehen. Doch sie wirbeln weiter in ihrem Kopf herum, als hätten sie ein Recht darauf, wie ein Tsunami aus Wörtern und Sätzen plötzlich über sie herzufallen. Als hätten sie ein Recht darauf, sich als ein gewaltiges Unwetter aus Gedankenfetzen in ihren Gehirnwindungen zu entladen.
Schon längst hat sie den Überblick verloren. Wo auch immer sie hinblickt, sie sieht immer das gleiche endlose Blau des Meeres ihrer Gedanken.
Sie kann nicht sagen, wo oben und unten ist.
Sie kann nicht sagen, wo links und rechts ist.
Alles was sie möchte ist: raus. Raus aus diesem Gedankenstrom, der sie mit seinen kalten Händen erbarmungslos gefangen hält. Raus aus diesem Gedankenstrudel, der sie unaufhaltsam durch das Wasser schleudert und dabei all die vergessenen Erlebnisse wieder an die Oberfläche bringt.
Es kommt ihr vor wie eine Ewigkeit. Eine viel zu lange Ewigkeit.
Doch schließlich, langsam, ganz langsam merkt sie, wie sich die Flut zurückzieht. Der Sand fällt zurück auf den Boden, die Strömung lässt nach und sie kann wieder klarsehen. Ihre Gedanken ordnen sich wieder zurück in die Schubladen, in die sie sie vor langer Zeit gesteckt hat. Sie flüchten sich wieder in die hintersten Ecken ihrer Erinnerungen, in die sie sie verdrängt hat.
Sie ist wieder Herrin ihres eigenen Kopfes, Königin ihrer Gedanken.
Das Einzige, das zurückgeblieben ist, ist die Entschlossenheit.
Langsam, ganz langsam öffnet sie ihre Augen.
Dort steht er, genauso, wie auch eine Sekunde zuvor. Eine Sekunde ist vergangen, in der ihre Augen geschlossen waren und das Meer ihrer Gedanken sie beinahe zum Ertrinken gebracht hat. Und alles nur wegen dieser einen Frage. Dieser einen Frage, die ihr bereits einmal gestellt wurde und deren Antwort die beste und gleichzeitig schlechteste Entscheidung ihres Lebens war. Doch dieses Mal wird es anders sein.
„Ja“, meint sie und blickt ihm entschlossen in die Augen.
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