Das was übrigbleibt
Ganz am Ende eines Dorfes und noch weiter dahinter steht ein kleines Haus. Es ist nicht aus Ziegelsteinen, aber es ist trotzdem ein Haus. Davor sitzt ein kleines Mädchen, immerzu dreht sie ein surrendes Rad. Sie hört den Mann nicht kommen und sieht nicht auf, als er spricht: „Warum so traurig?“
Er hebt ihr Kinn, Tränen rennen über ihre Wangen und tropfen auf seine Hand.
Für einen Moment Stille, dann wieder das Surren des Rads.
„Dein Fahrrad?“
Sie schüttelt den Kopf. „Von meim Bruder.“
„Und wo ist der?“
Keine Antwort.
Er steht auf, hebt eine große Tasche auf seinen Rücken und wendet sich zum Gehen. „Nicht mehr weinen, Kleine.“
Ihre Hand ballt sich zur Faust und sie versetzt dem Gummi einen heftigen Stoß. „Ich schenk es dir!“ ruft sie ihm hinterher, weiß selbst nicht warum.
Am Abend muss sie Wasser holen, zum ersten Mal allein. Sie hat einen großen Kanister mit zwei Riemen, der eine schleift im sandigen Boden hinterher. An der Wasserstelle ist niemand. Alles fühlt sich jetzt anders an. Das Wasser kühlt ein bisschen.
Ein lauter Knall. Sie wirft sich auf den Boden, ihr Herz beginnt zu rasen. Sie legt die Hände über den Kopf, der volle Kanister kippt um, ein Schwappen, dann ergießt sich alles auf den trockenen Boden. Dann Schreie, dann Schüsse. Dann Stille. Sie dreht sich nicht um, sie wird nie in einen Gewehrlauf schauen, sie wird immer rennen.
Die Tür ist nicht mehr da. Im Sand, unter den Füßen der Männer, ist noch der zarte Abdruck eines großen Fahrrads zu erkennen.
Hinter ihr verschwindet das kleine Haus, sie könnte sehen, wie es immer kleiner wird, würde sie nur zurück schauen.
Barfuß über den heißen Boden, kleine Steine und Schutt überall. Ein Motor startet.
Da liegt jemand. Eine Hand am Lenker. Ein rotes Netz über Gesicht und Armen, der Sand trinkt gierig. Fast so wie Shuja, denkt sie, stemmt sein Fahrrad hoch und klettert auf den Sattel. Ihre Füße schweben über dem Boden, im Zick-Zack fährt das Rad. Hinter den großen Steinen geht es bergab. Sie nimmt die Füße hoch, die Pedale rotieren immer schneller und schneller, ganz von allein. Hinter ihr geht die Sonne unter. Ihre kleinen Zöpfe hüpfen auf und ab, die bunten Gummis tanzen auf ihrem Kopf. Nicht mehr weinen. Das hier ist besser, wie schnell sie ist! Lachen. Atmen.
Im Dämmerlicht sieht man nicht jeden Stein, und wo viele liegen, da fällt einer nicht auf.
Sie schreit nicht, als der heftige Ruck sie schüttelt, der Lenker sich querstellt und ihr aus den Händen gleitet. Für einen Moment ist die Welt verkehrt herum, ein kleiner Satz über den Lenker, dann schlägt sie auf. Sie dreht sich noch, tausend kleine Steine zerfressen ihre Haut.
Der Sand hat sich abgekühlt, es ist still geworden, nur das leise Surren des Rads ist noch zu hören, bunte Zöpfe haben sich zwischen die Speichen geworfen, bringen es zum Stehen.
Ganz am Ende eines Dorfes und noch weiter dahinter steht etwas. Es ist nicht aus Ziegelsteinen und es ist auch kein Haus.
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