Das, was mich loslässt
Alles dafür, dass ich jetzt hier stehe, inmitten der Reisenden und Pendelnden, die alle ein Ticket in ihrer Tasche wissen und
gedanklich schon an ihrem Ziel angekommen sind. Da sind Menschen im Anzug und im
Kostüm, mit schwerer Tasche und piepsenden Geräten; da sind Menschen, die in bequemer Kleidung
Trolleys neben sich herziehen und nervös nach ihrem Gleis suchen; da sind Menschen mit riesigen
Rucksäcken, so einen, wie ich trage, und sich auf alles, was vor ihnen liegt, freuen. Und da sind Obdachlose;
welche, an den Seiten der breiten Durchgänge knien,
oder mit schwachen Taschenlampen in die Mülleimer starren, oder mit leiser,
verzweifelter Stimme, Menschen um ihr Kleingeld bitten, oder regungslos auf die Abfahrtstafel
starren und sich fragen, wie das nur passieren konnte.
Paris, Zürich, Hamburg, München.
Da rempelt mich jemand an. „Entschuldigung!“, sagt eine junge Frau und tritt mir auf den Schuh. Ich frage mich, ob sie erkennt, wie ähnlich wir uns sind. Wie ähnlich wir uns sein könnten, wenn ich nicht so durchgetragen wäre und sie nicht so behütet. Dann zuckt die Tasche kurz und die junge Frau läuft weiter.
Ich sinke in die Erde und die Welt verschwindet über der Oberfläche.
„Mädchen, Mädchen“, über mir ist ein großes Gesicht. Dreckiger als meine Schuhe, zerlöcherter als
mein T-Shirt, wilder als meine Haare. „Weißt du,“, er sieht mir leicht irre
grinsend ins Gesicht. „Die härteste Droge, die du jemals erleben wirst“, ich atme schwer. Er riecht so
schrecklich. Rieche ich so auch? Ich weiß es nicht. Ich vermisse das Gefühl von
Sauberkeit. „Die härteste Droge ist die
Bahn“, er deutet hinüber zu den Gleisen. Ich höre das elektrische Surren eines anfahrenden Zugs.
„Ein Zug und du bist weg. Verstehst du?“ Er starrt mich eindringlich an und ich blicke ihm in die
Augen. Ein niemals endender Tunnel, der in der Tiefe versinkt. Ich nicke und denke daran, wie schön
es wäre, aus einem Fenster zu sehen und die Welt an sich vorbei ziehen zu sehen.
Da beginnt der Mann zu lachen und wankt davon. Für mich ist nirgends Platz. Der Bahnsteig ist sauber gefegt. Die Menschen warten ungeduldig auf
ihren Zug.
Paris, Zürich, Hamburg, München.
Sie starren mich an: "Geh, bitte"
Ich weiß nicht wohin. Ich sehe den Zug von weitem, wie
er sich seinen Weg bahnt und sich immerzu vorwärts bewegt, nicht zurückblickt, nicht auf andere
Personen um sich herum achtet. Nicht auf mich achtet und den kleinen Schritt nach vorne. Die Gleise
liegen sanft an meinen Wangen. Ich schließe die Augen. Um mich herum höre ich das
Rauschen der Wellen. Ich denke daran, wie sie mich hinaus ins Meer tragen und ich sanft sinken
werde. Mein Körper beginnt sich zu versetzen. Alles splittert von mir ab. Ob daraus eines Tages junge Mädchen klettern werden, die nach
Heimat suchen, doch nichts außer Kälte und Hitze finden. Um mich herum nur das Tosen des Wassers, dass mich zu dem seinen machen wird. Mein Leben strömt aus mir, hinaus auf die Gleise, nach Paris, Zürich, Hamburg, München.
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