Denk dir einen Baum
Denk dir einen Baum.
Und sag uns: wie sieht er aus? Ich denke, er ist groß, wuchtig, knorrig. Dicke Äste mit zarten Zweigen. Aus dem Holz sprießt es grün. Es sind herzförmige Blätter, noch sitzen sie bei ihm, sind noch nicht verloren, obwohl sie immer verlieren werden. Du denkst an dünnen Stamm und blättrige Rinde. Du denkst an seidenartige Blättchen, die von der Krone herabperlen, bis auf den Boden. Vielleicht singt ein Vogel.
Wir sehen dich jetzt an. Und wir denken an deinen Baum, du hast ihn uns pflichtschuldig geschildert. Unsere Bäume sind anders, stehen auf einem anderen Untergrund, unter einem andersfarbigen Himmel, andernorts. Du siehst uns an. Du wartest auf das, was wir gleich sagen werden. Auf unser Urteil. Denn wir sind vielleicht nicht ganz zufrieden mit deinem Baum. Ich finde ihn zu gewölbt, ihr zu sehr Bäumchen. „Was nun?“, fragst du.
„Was nun?“ Ihr drängt euch nah an dich, stößt mich aus dem Weg. Und ihr redet. Und fuchtelt herum. Und redet von größer und kleiner und stabiler und graziler und… Du stehst da, deine Augen weiten sich. Jetzt zwänge ich mich durch die Menge, gelange in die Mitte.
Es ist überhaupt nicht von Belang, wie unzufrieden ihr mit ihm seit! , sage ich. Es ist nicht eurer… Ihr blickt mich an, verblüfft, abwägend, abwartend. Ich fahre fort.
Denk dir einen Baum. Und sag mir: Wo bist du? Stehst du auf der Wiese, in der dein Baum wurzelt? Wohnst du in der Nähe und kommst an den Zaun, der den Baum von dir trennt, obwohl er dir gehört? Besuchst du ihn jeden Tag, jede Woche… oder nie? Wohnst du gar in der Baumkrone, im Wipfel, der sich im Wind wiegt und keinem Wetter beugt?
Du denkst nach. „ Was ist der rascheste Weg zu ihm?“, sagst du. Und ich komme zum Punkt.
Es geht nicht darum, wie schnell du dich auf den Baum zubewegst. Es geht darum, wie schnell -oder langsam- du bist. Ohne Weg, ohne Ziel. Gehst du? Läufst du? Springst du über Steine, in Bäche, zischt du durch die Landschaft, Blick fest nach vorn gerichtet? Wir vergessen, dass uns auch die Umgebung gehört. Wir vergessen, den Blick schweifen zu lassen, die Formen des Kiesels, die Fische im Wasser zu betrachten. Wir müssen unabhängig von der Richtung existieren, auch wenn das heißt, vielleicht unsere Bäume nicht zu erreichen.
Denn du darfst nicht auf deinen Baum zurasen. Sonst schälen sich Stücke seiner Rinde ab, Äste brechen, der Stamm wird gespalten. Sonst bist du zu erschöpft, um zu leben.
Jetzt lächelst du. Ihr fängt an zu nicken. Ich frage mich…Haben wir es wirklich begriffen? Denkt an eure Träume. Leben wir im richtigen Tempo, um in tiefsten Zügen am Leben zu sein?
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