Denn ich muss alles schätzen, was ich habe
Ich mache die Tür hinter mir zu. Damit endet die Rede von meinem Stiefvater, die ich fast jeden Tag von ihm höre. Immer der gleiche Ton, immer die gleichen Worte. Wie eine nervige Audioaufnahme, die abends immer wieder abgespielt wird, wenn ich nach Hause komme. Mein Stiefvater war wie immer wütend, weil ich schon wieder kein Geld hatte, um meinen Teil der Miete für die Wohnung zu bezahlen. Die Gasteltern dachten, ich sei alt genug, um arbeiten zu gehen und irgendeinen Beitrag zur Wohnungsmiete zu leisten. Ich wollte das alles nicht, aber ich hatte keine Wahl, denn ich muss alles schätzen, was ich habe.
In meinem Zimmer habe ich mein kleines Weltchen: ein Bett, einen Schreibtisch und einen Sessel, der allerdings nicht für einen besseren Zustand meines Rückens sorgt. Ich versuchte deshalb immer wieder, meine Hausaufgaben auf dem Boden zu machen, aber der Boden ist kalt. Und ich könnte krank werden. Ohnehin habe ich das Gefühl, dass ich alle zwei Wochen krank werde. Aber ich habe keine Wahl, denn ich muss alles schätzen, was ich habe.
Ich muss wochentags in die Schule gehen, und danach habe ich entweder eine Klavierstunde, oder ich gehe zu einer staatlichen Schule, wo ich den kleinen Kindern Englisch unterrichte. Hauptsächlich bin ich dorthin gegangen, weil ich Geld brauchte. Aber ich hätte nie gedacht, dass die Kinder mir so viel Freude bringen könnten. Ich bin so müde, dass mir alles wehtut, aber ich lächele, wenn ich an die kleinen naiven Wesen denke. Wie schaut denn mein Lächeln aus? Ich hätte gerne einen Spiegel hier, in meinem Zimmer. Aber ich habe keine Wahl, denn ich muss alles schätzen, was ich habe.
Die Englischstunden sind die einzigen Momente, in denen ich wirklich von Herzen lächeln kann. Sonst ist mein Lächeln immer falsch. Mir tut alles weh, aber ich muss lächeln. Die anderen wundern sich, wie ich immer so glücklich sein kann. Aber ich bin fast nie glücklich. Und sie wissen das nicht. Ich bin nur dann glücklich, wenn ich vor meinen Augen die fröhlichen Gesichter der Kinder sehe. Aber das hält immer nur einen Augenblick.
Jeder Tag ist eine Qual, bis ich das Gebäude der staatlichen Schule betrete. Ich lasse mein wertloses Leben hinter mir. Und ich tauche in die Kinderwelt ein. Ich erinnere mich an die Zeiten, als ich sechs Jahre alt war. Damals war alles noch farbig, damals konnte ich noch die Hand von meiner Mutter spüren, die mich festhielt, als ich auf dem Bordstein lief. Und sie sagte mir, wie schön mein Lächeln war. Damals war alles so viel einfacher.
Ich legte mich aufs Bett und machte die Augen zu.
Ich wusste nicht mehr, ob es nur ein Traum oder Realität war, aber mir schien, dass jemand die Tür aufgemacht hat. Und wie jemand mit starken Händen meine Schultern packte. Ich sah die Augen voller ungesunder Wut, und als die Faust kurz vor meinem Gesicht war, habe ich an die Kinder gedacht.
Und ich lächelte.
Denn ich muss alles schätzen, was ich habe.
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