Der Anfang vom Ende
Schwärze umgibt mich, dunkel wie die Nacht, lauernd, auf mich wartend. Vorsichtig wage ich einen Schritt, kraftlos, erschöpft. Doch ich gehe weiter, ein Schritt nach dem anderen, hinein ins Ungewisse.
Leise Geräusche klingen gedämpft an mein Ohr, wie durch eine Wand hindurch. Ein dumpfes Pochen, stetig, unermüdlich, rhythmisch wie ein Herzschlag. Ich vernehme das Schreien eines Neugeborenen, sanfte Stimmen, die etwas flüstern und daraufhin das tränenverhangene Lachen des Babys. Ich blicke auf. Ich kenne dieses Lachen, diese Stimmen, dieses Schreien. Sie sind Teil einer Erinnerung, die mein Gehirn vergessen, mein Herz jedoch aufgehoben hat, sorgfältig bewahrt, im Innersten meiner Seele.
Eine weitere Erinnerung erscheint vor mir, meine Eltern, mich zärtlich in den Armen haltend, mich liebevoll anblickend. Langsam taucht ein Moment nach dem anderen auf, bleibt, bis ich mich an ihm sattgesehen habe und mich dem Nächsten zuwende. Ich sehe, wie meine Kindheit vor meinen Augen abgespielt wird. Ich durchlebe jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde ein weiteres Mal. Ich sehe zu, wie ich meine ersten Schritte mache, mein erstes Wort spreche, meinen ersten Wackelzahn bekomme, meinen ersten Schultag erlebe. Langsam, stetig, wie ein Sog.
Immer mehr Momente meines Lebens erscheinen vor meinen Augen, einer nach dem anderen, wie Regentropfen, die sanft auf mich herabregnen. Meine Zeit im Gymnasium, meine neuen Freunde, der Stress in der Schule. Die Rückblicke meines Lebens werden schneller. Ich beobachte mein jüngeres Selbst, wie es sich verändert, versucht, dazu zu passen, anderen zu gefallen. Wie es unsicher wird, sich mit anderen vergleicht.
Ich erlebe ein zweites Mal, wie ich mein Studium beginne, den Kontakt zu meinen Freunden verliere, versuche, den Anforderungen gerecht zu werden. Der Strom an Erinnerungen wird hektischer, die Zeit verrinnt. In einem Moment erlebe ich meine Verlobung, meine Hochzeit. Im Nächsten habe ich einen Schwangerschaftstest in meiner Hand, Tränen fließen über mein Gesicht. Immer schneller, immer rascher ziehen die Ereignisse an mir vorbei, meine erste Geburt, der Arbeitsalltag, mein Leben.
Meine letzten Lebensjahre vergehen in Sekundenschnelle. Die Geburten meiner Enkelkinder. Die Freude, Großmutter zu sein. Der Umzug ins Krankenhaus. Die restlichen Monate, die Zeit mit meiner Familie. Sie alle vergehen so rasch, so kurz, dass sie kaum zu sehen sind, dennoch spüre ich die Dankbarkeit, die ich während jeder dieser Momente empfunden habe.
Eine letzten Erinnerung erscheint, langsam, sanft. Ich blicke auf mein Ebenbild herab, in einem Krankenhausbett liegend, an schwach piepsende Geräte angeschlossen, von meiner Familie umgeben.
Ich habe ein Lächeln im Gesicht, als das Piepsen aufhört und das Bild langsam verblasst.
In der Dunkelheit, die mich nun wieder umgibt, erkenne ich ein strahlendes Licht, wie am Ende eines Tunnels. Wie ein Portal in eine andere Welt schwebt es im Nichts. Ich blicke nicht mehr zurück, gehe zielstrebig auf das Licht zu.
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