Der Anruf
Ich trete in die Pedale. Die Reifen geben ein spritzendes Geräusch von sich, während sie über den nassen Boden fahren. Regentropfen peitschen wie winzige Messer gegen mich und hinterlassen lauter kleine Wasserperlen auf mir. Der Wind pfeift mir so laut durch die Ohren, sodass es weh tut.
Ich schalte in einen höheren Gang und trete fester in die Pedale. Mein Rad beschleunigt sich und kaltes Wasser spritzt mir gegen meine Jogginghose. Normalerweise gehe ich nie in Schlabberhosen außer Haus, aber heute ist eine Ausnahme. Ich muss so schnell wie möglich hin!
Die vorbeifahrenden Autos nehme ich nur gedämpft war und die Lichter, die aus den Häusern strahlen, verschwimmen vor meinen Augen. Meine Oberschenkel brennen, als würde jemand mit tausenden von kleinen Nadeln auf sie einstechen und ich beiße meine Zähne zusammen. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr: 19: 35. Vor zehn Minuten kam der Anruf. Der Anruf, von dem ich wusste, dass er kommen wird, aber es immer wieder verdrängt habe. Ich konnte es nie Wahrhaben. Sie darf nicht gehen. Sie kann mich nicht allein lassen! Meine Augen brennen und Tränen laufen mir über die Wangen. Bitte lass es nicht zu spät sein.
Ein Auto fährt knapp neben mir vorbei und mir spritzt einen Schwall Wasser entgegen. Der Stoff meines T-Shirts klebt an mir wie eine zweite Haut und die feinen Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Verdammt es ist so kalt. Mit ganzer Kraft trete ich in die Pedale und versuche die Kälte und den stechenden Schmerz in meinen Beinen zu ignorieren. Nur noch zwei Mal abbiegen, dann bin ich da.
Die Bremsen quietschen als ich an der roten Ampel stehen bleiben. Mein Atem geht schnell und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, wie ich da vor dem Zebrastreifen stehe. Endlich springt das Männchen auf Grün und ich trete wieder in die Pedale.
Ich komme dem weißen Gebäude immer näher und mit jeder Sekunde, schnürt es mir die Kehle weiter zu. Obwohl ich die letzten Jahre mehr Zeit im Spital verbracht habe als in jedem anderen Haus dieser Stadt, wird mir beim Gedanken daran jedes Mal übel. Ich erreiche den Eingangsbereich, lasse mein Rad achtlos fallen und sprinte die Stiegen hinauf. Meine Hände stoßen die Glastür auf und sofort steigt mir der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase. Meine Füße tragen mich wie von allein den Weg zum Lift.
Meine Finger zittern als ich den Knopf drücke, um den Aufzug zu holen. Wenige Sekunden später höre ich wie sich der Fahrstuhl in Bewegung setzt. Das Geräusch holt mich in die Realität zurück und ich erinnere mich, wo ich gerade bin. Ich hasse Krankenhäuser. Der Gedanke daran, dass sich hinter jeder Tür ein oder mehrere Personen befinden, die vielleicht in Lebensgefahr sind, macht mir Angst.
Der Lift geht mit einem Zischen auf und ich steige in den kleinen Raum. Meine Finger wählen den Knopf mit der Aufschrift 3. Die Türen schließen sich und der Aufzug setzt sich in Bewegung. Bitte lass es nicht zu spät sein!
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