Der Außenseiter
Ihre Blicke waren spöttisch und ihr Lachen gehässig. Wie oft war er schon hier vorne gestanden, innerlich flehend, es möge bald enden. Es war noch nie leicht gewesen, aber er hatte es immer geschafft. Dieses Mal allerdings war etwas anders. Sie waren selbstbewusster geworden. Es gab nun niemanden mehr, der ihn schützen würde. Niemanden, der ihm zur Seite stand. Er war alleine, und das wussten sie. Die Lehrerin trommelte in unregelmäßigem Takt auf ihr Notizbuch ein. Ihr Blick war unergründlich, doch er wusste ohnehin, was sie dachte. „Er schafft das nicht“. Wie recht sie hatte. Er würde es nicht schaffen. Das war nicht nur ihm, sondern allen im Raum bewusst. Das Wort „Versager“ stand ihm praktisch auf die Stirn geschrieben. Seine Gedanken überschlugen sich. Wörter kreisten durch seinen Kopf, doch es war ihm nicht möglich, diese zu einem Satz zu formen. Seine Konzentration war am Ende. Wenn er in die Gesichter seiner Mitschüler sah, wusste er auch warum. Sie hatten ihm keine Chance gegeben. Von Anfang an hatten sie sich über ihn lustig gemacht und getuschelt. Wie sollte er sich da konzentrieren? Doch die Lehrerin schien kein Verständnis für ihn zu haben. Ungeduldig tippte sie auf ihre Armbanduhr. Er verstand. Seine Zeit war fast um. Er riss sich ein letztes Mal zusammen, versuchte, die losen Wörter in seinem Kopf zu sortieren und alles andere auszublenden. Seine Augen waren geschlossen, während er dreimal tief durchatmete. Genauso, wie sein Freund es ihm gezeigt hatte. Sein bester und einziger Freund, begraben auf einem Friedhof nur zehn Meilen von hier. Er würde ihn nie mehr wiedersehen. Plötzlich hatte er Tränen in den Augen. Er sollte derjenige sein, der unter der Erde lag. Nicht sein Freund. Nicht Alex, mit dem er über alles hatte reden können, der ihn immer unterstützt hatte und immer für ihn da gewesen war. Wie sollte er nur ohne ihn weiterleben? Er stellte sich vor, was sein Freund ihm in diesem Moment geraten hätte. „Kämpfe“, schoss es ihm durch den Kopf. Ja, er würde kämpfen. Er musste kämpfen. Für seinen besten Freund. Ein Toter, der immer in seinem Herzen weiterleben würde. Er öffnete die Augen wieder und straffte seine Schultern. Die Blicke der anderen trafen ihn wie einen Schlag. Da war so viel Hass. Hass, den er nicht verdient hatte. Nie hatte er ihnen etwas getan. Aber für sie war er anders. Sie hatten ihn zu einem Außenseiter gemacht, ohne dass er davor eine Chance gehabt hätte, sie von dem Gegenteil zu überzeugen. Sie hatten ihm nie eine Gelegenheit gegeben. Die Lehrerin sah ihn durchdringend an. „Kämpfe. Jetzt!“, rief er sich innerlich zu. Er wiederholte es, wie ein Mantra. Seine Hände zitterten und sein Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust. Er konnte seinen Freund nicht mehr von den Toten zurückholen. Aber er konnte für ihn weiterleben. Vielleicht war das seine wahre Aufgabe. Er nahm all seinen Mut zusammen und begann zu sprechen.
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