Der blaue Drache an meiner Tür
Es klingelt an der Tür. Sturmläuten. Schnell stehe ich auf und laufe zum Eingang. Ich drücke auf den Summer und das Getöse hört auf. Stattdessen höre ich schnelle, klackende Schritte die Treppe hinaufeilen. Ich warte gespannt an der Eichenholztür, bis sie plötzlich vor mir steht. Sie trägt heute einen schwarzen engen Lederrock, ein purpurrotes Shirt mit dünnen Trägern und hohe lackierte Schuhe. Ihre Haare sind verwuschelt, sodass ihre Locken noch mehr auffallen als sonst. Sie sieht aus wie eine stolze Löwin. Mein Blick wandert wie gewohnt ihren Körper hinunter und die Künstlerin in mir ist immer noch fasziniert von ihrem Tattoo. Ein großer blau-weißer Wasserdrache schlängelt sich ihr Bein entlang nach oben und verschwindet unter ihrem Rock, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann. Aber ich weiß, dass es da ist und mich anlächelt; wie am ersten Tag. Ihre Augen sehen mich an, doch ihre Lippen bleiben geschlossen, formen nichts, was ich erkennen könnte. Ihre Gesichtszüge lassen mich nicht hinter die dicke Fassade blicken; wie damals.
„Natalia“, flüstert sie und meine Ohren horchen auf. Ich warte, bis sie noch etwas sagt. Bis sie mir erklärt, wieso sie hier ist. Bis sie mir alles erklärt.
„Verzeih mir, dass ich gegangen bin. Verzeih mir bitte, dass ich falsche Entscheidungen getroffen habe. Verzeih mir meinen Egoismus und meine Zurückhaltung. Bitte, verzeih mir.“ … . . . Kann ich das denn? Ihr verzeihen? Ihr Fortgehen, ihre Taten und dass sie sich monatelang nicht gemeldet hat? Kann ich das denn?
Mein Kopf senkt sich und mein Blick wandert zurück zu ihrem Tattoo. Beim ersten Mal dachte ich noch, es könnte auch eine Schlange sein, aber der buschige Schwanz hat mich an die Art Drachen erinnert, die es in der chinesischen Kultur gibt. Und heute kenne ich jede Facette, jede Faser und jede Schuppe dieses mystischen Wesens. Schon so oft habe ich mit meiner Hand über das Muster gestrichen, habe es bewundernd angesehen und mich verliebt; in ihn, in sie.
„Mara“, hauche ich und blicke hoch. Ihre Augen funkeln wie aufgeschäumtes Wasser, das die Berge hinunterfließt. Wie eisige Kälte im warmen Türkisblau. Ich werde mich gleich in ihnen verlieren, das spüre ich. Sie hat diese Macht über mich, immer noch.
„Natalia“, formen ihre Lippen und ich spüre ihre Schuldgefühle. Tief in mir weiß ich, was ich jetzt tun will und was ich tun sollte. Aber was ist das Richtige?
Mit dee letzten bisschen Kraft, die meinem Körper noch bleibt, mit der Sehnsucht, die ich verspüre, wenn ich sie ansehe, mit allem, was ich noch habe… „Ich vergebe dir.“
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX