Der eine Augenblick
Der Augenblick rückt näher. Martin schaut aus dem Fenster des Autos und sieht die anderen Verkehrsteilnehmer in der Düsternis des Winterabends über die Straßen fahren, wie die Scheinwerfer auf dem Schnee am Wegrand reflektiert werden. Da sieht er einen Jungen in seinem Alter auf dem Fahrradweg, mit einem Sportrucksack auf dem Rücken. Ist das einer seiner neuen Teamkollegen? Wiedererkennen kann er ihn nicht. Das Auto fährt weiter, durch die Straßen der Stadt, an den belebten Restaurants vorbei.
Seine Augen erblicken die fröhlichen Gesichter der Paare und Familien, die gerade auf dem Weg zu den Weihnachtsmärkten sind, um Geschenke für ihre Liebsten zu kaufen. Wie gerne würde er jetzt bei ihnen sein. Für einen Augenblick überlegt er, seinem Vater zu sagen, er solle umdrehen. Die Verlockung ist groß, doch das kommt nicht infrage. Er hatte sich geschworen, eines Tages wieder zurückzukommen. Ein weiterer Augenblick vergeht. Jetzt sind sie schon an der Kreuzung. Vor ihnen stehen einige andere Autos. Sind darin auch andere Spieler, auf dem Weg zum Training? Er versucht, etwas durch die Rückspiegel zu erkennen, aber das Glas ist getönt. Einen Augenblick später schaltet die Ampel auf Grün.
Jetzt sind sie außerhalb der Stadt. Man kann die Lichter der Sporthalle schon durch die Bäume erahnen. Der Junge wird immer nervöser. „Was, wenn sie mir immer noch nicht verziehen haben, dass ich sie damals im Stich gelassen habe? Ob sie sich nach zwei Jahren überhaupt noch an mich erinnern können? Interessieren sie sich überhaupt dafür, dass ich wiederkomme? War es ein Fehler, sich überreden zu lassen, dem Handball noch eine Chance zu geben?“ Das Auto verlässt den Kreisverkehr, dann um eine Ecke. Nun erblickt der Junge die Sporthalle. Die Angst vor dem Augenblick wird immer größer. Er steigt aus dem Wagen, öffnet den Kofferraum und nimmt seine Sporttasche. Die Gedanken von vorher schießen ihm immer noch durch den Kopf. Sein Vater fährt weg. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Mit jedem Schritt werden seine Bedenken stärker; es fühlt sich an, als würde der Rucksack schwerer werden. Er ist kurz davor umzudrehen, einfach wegzugehen. Doch dann fallen ihm wieder die schönen Augenblicke ein, die er mit dieser Mannschaft hatte: die Tore, die sie geschossen hatten, wie sie zusammen feierten, auch wenn sie mal knapp verloren hatten. Und dann wurde dem Jungen wieder klar, wieso er diesen Sport liebte: wegen des Teams.
Er betritt die Halle, erblickt die anderen Spieler, die ihn überrascht anschauen. Dann rannten sie freudig los. Und dann bemerkte er, dass die Angst vor dem einen Augenblick unbegründet war. Denn es war, als wäre er nie weg gewesen.
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