Der eine blau, der andere grünvon Julia Lückl
Sie hatte den Teddybären auf den Tisch gesetzt und die Sonne ließ seinen Schatten über die Glasplatte wandern. Seine Augen spiegelten sich im Glas. Es waren Knöpfe, der eine blau, der andere grün.
Sie legte den Kopf auf den Tisch und betrachtete die Kinderzeichnung an der Wand. Bunt bildete sie ein Haus mit rauchendem Schornstein ab. In die Ecke hatte er die Sonne gepinselt, der Himmel war eine einzige blaue Linie. Es war erst neun Monate her, seit sie es aufgehängt hatte, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
Sie fragte sich, wie oft er an sie dachte. Ob er abends weinte oder morgens. Ob er sie so sehr vermisste wie sie ihn…
Aus der Nachbarwohnung drang gedämpfte Klaviermusik. Sie verstand nicht viel davon, aber dieses Lied kannte sie. Sie hatte es ihm abends immer vorgesungen. Unbewusst summte sie leise mit – bis es ihr auffiel.
Sie fragte sich, wie lange sie noch warten musste. Ob er morgen wiederkommen würde. Oder übermorgen…
Ihr Blick fiel auf den Kalender. Es war noch der vom Vorjahr, aber das Datum stimmte. Mit rotem Filzstift hatte er seinen Namen in das weiße Kästchen geschrieben. Es war sein Tag. Auf der Anrichte stand der Schokoladenkuchen mit sechs Kerzen, den sie gestern noch gebacken hatte. Die Zündhölzer lagen griffbereit daneben.
Sie wandte sich ab, ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Die Girlanden fehlten. Falls er heute wiederkam, mussten sie da sein. Im Flur stapelten sich in der Ecke die Zeitungen. An der Wand darüber hing ein Foto in einem blauen Bilderrahmen. Ihr Schritt wurde langsamer, ruhiger, bis sie davor stehen blieb.
Es war ihr erster Urlaub gewesen und sie hatte sich überreden lassen, mit ihm in dieses Spielzeuggeschäft zu gehen. „Mama, kann ich den Teddybären haben?“, hatte er sie wieder und wieder gefragt. Bis er diese Bitte so oft wiederholt hatte, dass sie auch mit dem „Du-hast-doch-schon-so-viele-andere-Stofftiere-Argument“ nicht mehr weiterkam.
Die Knopfaugen des Teddybären waren beide schwarz gewesen.
Hastig drehte sie sich weg, stolperte über die Zeitungen. Wie ein bunter Teppich verteilten sie sich über den Boden, zeigten ihr all die Bilder, die sie in den letzten Monaten nicht beachtet hatte.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort zwischen den Schlagzeilen saß. Zeit hatte für sie keine Bedeutung mehr. Sie wartete, bewegungslos, so wie sie die letzten acht Monate gewartet hatte. Nur ihre Augen suchten das blau umrahmte Foto.
Er hatte den Teddybären mit den schwarzen Knopfaugen auf dem Heimweg verloren. Sie hatte ihn in den Arm genommen und die Tränen waren seine Wangen hinuntergekullert. Dann hatte sie versprochen, ihm zum Geburtstag einen neuen Teddybären zu schenken.
Sie fragte sich, wo er war. Ob er Angst hatte. Ob er sich manchmal an ihr Versprechen erinnerte…
Das Bild verschwamm. Sie wandte den Blick ab, versuchte sich zu fangen. An der Wand gegenüber zeichneten sich zwei Handabdrücke ab. Der eine blau, der andere grün. Der größere war von ihr.
Die Farben zerflossen vor ihren Augen, sie hatte lange nicht mehr geweint.
Sie fragte sich, ob sie ihm oft genug gesagt hatte, wie sehr sie ihn liebte…
Ihr Blick wanderte durch das Zimmer, suchte Halt. Der Schatten des Teddybären fiel dunkel auf den himmelblauen Kindersessel. Tränen tropften auf ihre Bluse.
Die Musik in der Nachbarwohnung war verstummt.
Ihr war nur das Warten geblieben. Das Warten hatte sie verändert. Es war, als wäre eine Glasscheibe zwischen ihr und der Welt, seit er verschwunden war. Nichts drang zu ihr durch, einzig und allein ihre Fragen berührten sie. Fragen, für die sie keine Antworten hatte.
Sie wartete. Ihr Blick wurde klarer, die Abdrücke an der Wand nahmen wieder Gestalt an.
Sie trocknete ihre Wangen mit dem Ärmel und stand auf, ging zurück ins Wohnzimmer.
Es hätte sein Tag sein sollen. Sie hätte Geschenke verpackt und mit ihm Kuchen gegessen. Sie hätten seine Freunde eingeladen oder alleine gefeiert. Sie hätte ihm den Teddybären geschenkt.
Ich vermisse dich.
Sie nahm den Bären vom Tisch und trat ans Fenster. Ihr Gesicht spiegelte sich darin, aber sie sah hindurch. Der Spielplatz auf der anderen Straßenseite war leer. Das war er jedes Mal, wenn sie hinunterblickte. Dort hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Er war auf der Schaukel gesessen und sie hatte ihm gewinkt. Er hatte es nicht bemerkt.
Ich vermisse ihn, flüsterte sie dem Bären mit den blau-grünen Knöpfen zu.
Sie drückte ihn an sich und sah noch einmal auf den Spielplatz hinunter. Die leere Schaukel wippte im Wind.
Sie fragte sich, ob es ihre Schuld war, weil sie ihn dort alleine gelassen hatte…
Gedankenverloren lehnte sie sich an die Fensterscheibe. Tränen benetzten ihre Wangen, der Spielplatz lag unscharf vor ihr.
Er sitzt auf der Schaukel. Seine Augen blicken glücklich zu ihr hinauf, als er ihr winkt.
Sie betrachtete sein Lächeln, bemerkte kaum, wie sie ihre Hand hob.
Unbeschwert wendet er sich ab, schaukelt vor sich hin.
Sie lächelte und strich sich über die feuchten Augen.
Die Schaukel am Spielplatz wippte alleine.
Ihr blieb sein Lächeln. Und die Hoffnung.
Er würde kommen, mit all den Antworten, die keine Bedeutung mehr hätten.
Sie musste nur warten.
Die blau-grünen Knopfaugen des Teddybären spiegelten sich im Fenster.
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