Der Endeffekt
A sagt zu B: „Was wäre, wenn oben Erde und unten Himmel wäre?“ B versteht. Für B ist Himmel unten, denn unten lebt A. „Himmel ist unten, denn unten leben wir, und Himmel ist schön und das Leben ist schön“, antwortet B. Die erwartete Antwort. Wann immer A mit dieser Einstellung konfrontiert wird, ist es ihr, als hätte sie ein Regenschauer überrascht. An manchen Tagen macht es ihr nichts aus, an manchen Tagen freut sie sich sogar darüber und an manchen Tagen will sie sich einfach nur den ganzen Tag in ihrem Zimmer einsperren, die Decke über den Kopf ziehen und weinen, mit dem Regen um die Wette.
A nickt nur. B weiß, dass A nur nickt, wenn sie anderer Meinung ist. Das ist schon immer so gewesen, und manchmal wünscht sich B, es wäre anders, doch sie weiß, dass man A nicht formen kann wie Plastilin. Außerdem ist B kein Kind mehr und sollte deswegen nicht mehr das Bedürfnis haben, irgendjemanden so zu formen wie Plastilin. Dieser Wunsch ist für B ein Grund zum Schämen. Wie kindisch es doch ist, jemanden verändern zu wollen.
A und B gehen am Strand entlang. Der Wind komponiert die Wellen. Das Meer ist sein Notenblatt. Im Moment spielt das Orchester Pianissimo, später holt es aus zu einem Takt Grand Forte, doch bis dahin würden sie schon längst ganz anderes im Sinn haben. Die beiden Frauen haben Sand zwischen den nackten Zehen. „Wie Couscous!“, sagt B. „Wie Nadeln“, sagt A. Beide haben Recht, der Sand ist, wie man ihn nimmt. Hand in Hand schlendern sie nachhause, denn der Wind spielt einen Paukenschlag.
Am Esstisch sitzen A und B. „Schmeckt doch gut!“, sagt B. A nickt nur. „Ach komm, was hast du denn heute wieder?“, fragt B sanft. Sanft wie ein Stofftaschentuch, das über As blutende Gedanken wischt. Versucht, sie zu reinigen, zu retten, versucht, die Blutung zu stoppen. „Genau das. Heute, wieder“, antwortet A. B macht einen Druckverband. „Wieder heute ist wieder gestern ist wieder vorgestern ist wieder morgen“, fährt A fort. Das Blut sickert durch den Stoff „Aber ist heute so schlimm? Und gestern und vorgestern und morgen?“, fragt B. Die beiden Frauen schauen sich an. Bs Augen durchdringen As Körper, ziehen sie aus bis auf die Gefühle. Sie fühlt sich entblößt, nackt.
„Und ob heute lebendig war! Die Brise, die den Körper streichelt, die Sonne, die die Sommersprossen aus ihrem Winterschlaf lockt, du und ich! Wir, wie die Schildkröten, die am Strand herumgleiten und denen der Sand den Bauch krault!“, sagt B und ihr Enthusiasmus hebt sie auf die Beine. Sie sieht nicht mehr, dass A nur nickt.
Wie schön wäre es, einmal so zu leben? Einmal so zu atmen, zu spüren und zu denken? Dieser Gedanke lässt A nicht mehr los. Er lässt sie ausbluten. So steht A in der Nacht heimlich auf und geht barfuß den Strand entlang. Sie besteigt eine Klippe, dort steht sie, sieht hinunter in den Tod. Springt. Stirbt, damit sie nicht mehr leblos leben muss. Sie schlägt unten auf, im Himmel, oder auf Erden. Wer weiß das schon, im Endeffekt.
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