Der Feinschmecker
Augenblicke. So kurz und doch so bedeutend. Es liebt sie. Es braucht sie. Es verzehrt sich nach ihnen.
Es fing mit den Unbedeutenden an. Unbedeutende Augenblicke aus dem Alltag. Zwei Menschen treffen sich. Jemand geht in die Arbeit. Eltern essen mit ihrem Kind.
Bald wollte es mehr. In einem Augenblick kann sich ein Leben für immer verändern. Diese Augenblicke suchte es. Zwei Menschen geben sich das Jawort. Jemand wird bei einer Firma eingestellt. Eltern sehen ihr Kind zum ersten Mal.
Das war für eine Weile genug. Doch irgendetwas fehlte ihm. Es war nie ganz zufrieden. Nie ganz gesättigt. Irgendetwas fehlte. Irgendetwas. Es war hungrig. Und irgendetwas fehlte. Fehlte. Es war unruhig. Es war ruhelos.
Bis zu dem Augenblick, in dem der Mann seine Ehefrau aus Eifersucht ersticht. Bis zu dem Augenblick, in dem sich ein ausgebrannter Arbeitssklave vom Dach der Firma stürzt. Bis zu dem Augenblick, in dem das Kind in einem unbeobachteten Moment in der Badewanne ertrinkt.
Endlich fühlte es sich anders. Besser. Zufriedener. Das hatte ihm gefehlt. Diese Augenblicke. Augenblicke, die ein Leben für immer verändern. Augenblicke, nach denen alles anders ist. Schlechter. Düsterer.
Gierig suchte es nun diese Augenblicke. Hier rennt ein Kind über die Straße. Dort fährt ein Autofahrer und dreht sich lachend zu seinem Freund. Ein Augenblick. Dann liegt hier ein totes Kind auf der Straße. Und dort bleibt ein Autofahrer stehen, der nie wieder lachen wird. Eine Frau verlässt voller Vorfreude auf eine Feier ihr Haus. Ein Augenblick. Dann wird sie nicht mehr in ihr Haus zurückkehren.
Es ist unersättlich. Es will immer mehr. Mehr. Jetzt folgt es einem entschlossen wirkenden Mann. Es wittert neue Augenblicke. Der Mann geht zu einer Ansammlung von Menschen. Er hat eine Waffe in der Hand. Er beginnt, auf die Menge zu schießen. Es ist begeistert. So viele neue Augenblicke. So viele. Die Menschen schreien. Sie rennen. Sie zertrampeln. Sie sterben. So viele.
Es verschlingt all die Augenblicke. Ein Vater drückt sein Kind an sich. Ein Augenblick. Dann liegt der Vater mit einem Loch im Rücken neben dem totgetrampelten Kind. Eine Frau will weglaufen und stolpert. Ein Augenblick. Dann kann sie nicht mehr weglaufen.
Es nimmt immer mehr. Es gibt so viele Augenblicke. Zu viele Augenblicke. Zu viele. Es hört nicht auf. Es kann nicht. Will nicht. Langsam wird es von all den Augenblicken erdrückt. Es bekommt keine Luft mehr. Röchelnd fällt es zu Boden. Es schnappt nach Luft. Es versucht zu atmen. Ein Augenblick. Dann gibt es auf.
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