Der Fisch
Ein tiefer Abgrund.
Ein dünnes Seil, gespannt zwischen zwei Bergen.
Ein Seiltänzer auf der Flucht vor Selbstzweifeln.
Ein Schritt.
Noch ein Schritt.
Ein dritter.
Eine Bö von rechts.
Eine Haarsträhne, die durch die Luft peitscht.
Wonach schnappt sie?
Ein leichtes Zögern.
Ein Einatmen.
Ein Ausatmen.
Ein vierter Schritt.
Eine spiegelglatte Oberfläche.
Eine Angelschnur, die ins Wasser fällt.
Ein Fischer, der in seinem Ruderboot sitzt.
Eine Minute verstreicht.
Noch eine Minute.
Eine dritte.
Eine heftige Bewegung von links.
Eine Spannung im Faden.
Wird sie halten?
Ein Hoffen.
Ein erschlaffender Faden.
Ein Resignieren.
Eine vierte Minute.
Eine Sonne aus Glas.
Eine Spur aus Luftblasen, die an die Wasseroberfläche treibt.
Ein Taucher, der das Licht über sich anstarrt.
Eine Handvoll Wellen, die Münder bilden.
Noch eine Handvoll.
Eine Dritte.
Ein Fisch von vorne.
Ein Mund, der sich öffnet.
Wonach schnappt er?
Eine Ungewissheit.
Ein sich schließender Mund.
Ein Hinaufschauen.
Eine vierte Handvoll Wellen.
Die Welt wandelt sich.
Aus Licht wird Schatten.
Aus Angst wird Mut.
Aus Klarsicht wird ein verschwommenes Bild.
Die Welt wandelt sich und kennt kein Ende.
Der Seiltänzer setzt einen Schritt vor den anderen.
Der Fischer wartet auf eine plötzliche Bewegung.
Der Taucher treibt in seiner eigenen Welt.
Jedoch.
Der Seiltänzer hält inne. Er hat etwas schimmern gesehen. Sind es Schuppen oder doch nur die Sonne. Er bemerkt, dass er stehen geblieben ist. Das Seil schwankt. Es ist ein weiter Weg nach unten. Die Hälfte hat er schon geschafft. Kann er noch weiter? Er hört einen Vogel zwitschern. Ein fernes Grollen. Schwarze Wolken, die sich über einen dunklen Himmel ziehen. Wassertropfen, die dunkle Flecken hinterlassen.
Der Fischer hält inne. Der Faden ruckelt. Die Angelrute biegt sich zum Wasser hinab. Er springt auf und ergreift seine Angel. Das Boot bewegt sich, wird von einer scheinbar unsichtbaren Kraft angetrieben. Weiße Gischt. Er stemmt sich mit beiden Füßen gegen die Reling und blickt in den Himmel. Schwarze Gewitterwolken. Ein Sturm nähert sich. Kann er die Angel noch festhalten? Wäre es nicht besser, sie loszulassen? Er spürt einen Regentropfen auf der Stirn.
Auch der Taucher hält inne. Der Fisch schwimmt in einem Kreis um ihn herum. Er hält die Luft an. Glitzernde Schuppen. Ein sich öffnender Mund. Der Taucher blickt nach oben. Fahles Licht fällt wie durch einen Schleier. Die Welt ist einsam hier unten. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Die Sonne spiegelt sich. Sollte er auftauchen? Kann er noch bleiben? Der Fisch schaut ihn an.
Die Welt wandelt sich.
Um mit ihr Schritt zu halten darf man nicht stehenbleiben, darf man nicht loslassen, darf man nicht aufgeben. Können wir noch? Die Antwort ist einfach: Wir müssen es versuchen, um es herauszufinden.
Der Seiltänzer macht seinen fünften Schritt.
Der Fischer lässt seinen Fang an Deck fallen.
Der Taucher hält die Luft an.
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