Der Flyer
26. Jänner 1943
Ich sitze auf dem Ohrensessel und lese „Der Stürmer“, weil mein Ehemann nichts Anderes zum Lesen gestattet. Mir ist deutlich bewusst, dass ich eigentlich das Abendessen kochen sollte. Mein geliebter Ehemann ist Journalist, und drei Mal dürft ihr raten, was und bei welcher Institution er schreibt. Mein Traum ist es in weiter Zukunft Journalistin zu sein, aber aufgrund vieler Gründe ist es mir nicht möglich. Für meinen Mann bin ich nur die Haushälterin und die Gebärmaschine.
Ich blättere weiter durch den Stürmer und erreiche die Seite „Frauen und Mädchen“. Mit obszönen Bildern verbreitet man die Angst des jüdischen Sexualtäters. Ich lese ein Bisschen weiter, bis ich merke das meine aufgestaute Wut wieder zu brodeln beginnt und ich es mir nicht noch einmal leisten kann, teure Vasen auf Wänden und Böden zu zertrümmern.
Ich bin mit meinen Gedanken zu Hause eingesperrt. Tagein, tagaus mache ich das selbe Widerwillens und wenn mein nationalsozialistischer, heuchlerischer Mann nach Hause zurückkehrt, bin ich zu seinen Diensten verpflichtet. „Heil Hitler“ bringe ich nur schwer über die Lippen und wenn ich es tun muss, denke ich an meine jüdische Haushälterin, die für mich immer eine Großmutter war und die durch einen Pogrom ums Leben kam.
Jetzt wo ich mit euch so drüber spreche, komme ich mir immer lächerlicher vor. Ich hasse mein Leben und ich tue auch nichts als jammern anstatt zu versuchen, die Umstände zu ändern. Ich muss raus!
29. Jänner 1943
Beim Spazieren gehen, bin ich einer Frau begegnet, die genau wie ich eine Hose getragen hat. Sie hat mich lange angeschaut und dann hat sie aus ihrer Manteltasche einen Flyer rausgeholt und ihn mir in die Hand gedrückt. Auf den Flyer stand mit großen Lettern „Aufruf an alle Deutsche“. Als ich wieder auf sah war sie verschwunden.
7. Februar 1943
Ich habe mich einer Widerstandsgruppe angeschlossen und ich fühle mich so lebendig wie nie zu vor. Mein geliebter Ehemann denkt, ich sei bei meinen Eltern, und noch ahnt er nichts. Die Widerstandsgruppe besteht nicht aus vielen Personen und doch kenne ich nicht alle, denn falls ein Verräter unter uns weilt, kann er nicht alle Namen nennen. Ich habe mich bereit erklärt Texte und Flyer zu gestalten, denn zu Hause steht die Schreibmaschine meines Mannes und es ist immer genug Papier zu Verfügung.
4. Oktober 2020
Ihr fragt euch wahrscheinlich, was mit mir passiert ist. Nun ja, ich lebe in vielen Menschen weiter. Ich bin der Wille, die Vernunft, die Menschenliebe, die Gerechtigkeit und der Mut sogleich. Und solange jede Person, egal welche Religion oder welches Geschlecht, die Herkunft und die politische oder sexuelle Orientierung seine Meinung freischreiben, äußern und veröffentlich kann, haben wir unser Ziel erreicht. Kein Mensch sollte mehr um sein Leben fürchten müssen, weil andere Menschen ihre menschenfeindliche Gesinnung durchzusetzen versuchen.
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