Der Fremde
Blau.
Blau in blau.
Das Meer, der Himmel.
Nichts Anderes zu sehen.
Seit Tagen, Wochen, Monaten?
Er wusste es nicht. Heute war etwas anders, das spürte er ganz deutlich. Aber was? Der Schiffsjunge stand an Deck und blickte aufs Meer hinaus, suchte nach dem Grund für dieses Gefühl. Nichts war zu sehen. Das Wasser erstreckte sich unendlich weit, bis zum Horizont. Erst als er seinen Kopf hob, entdeckte er, was ihn irritiert hatte. Hoch über dem Schiff kreiste ein Vogel. Er wusste sofort, was das bedeutete: Land!
Von freudiger Erregung erfüllt stürmte er unter Deck, um den Rest der Mannschaft zu wecken. Als die Matrosen alle Segel setzten, um das Schiff auf Höchstgeschwindigkeit zu bringen, begab er sich in die Kombüse. Der Koch brauchte Hilfe. Während er arbeitete, dachte er an das letzte Mal, als er Festland unter den Füßen gehabt hatte – damals in Spanien.
Natürlich hatte er als Kind von dem Seeweg nach Indien gehört, den Christóbal Colón entdeckt hatte, hätte aber nie gedacht, dass er einmal selbst die Überfahrt wagen würde – hauptsächlich aus Neugier. Er wollte alles, was er über Don Colóns Entdeckungen gehört hatte, mit eigenen Augen sehen. Fremde Pflanzen und Tiere, Freiheit, Abenteuer – am meisten faszinierten ihn die Erzählungen über die Menschen, die dort lebten. Angeblich trugen sie keine Kleidung und bauten keine richtigen Häuser; manche von ihnen waren sogar Kannibalen! Er konnte es kaum erwarten, herauszufinden, welche Geschichten tatsächlich wahr waren.
Nachdem sie angelegt hatten und nun zum Festland hinüberruderten, konnte er vor Freude nicht mehr stillsitzen. Er sprang aus dem Boot und rannte den Strand hinauf, rollte jubelnd im Sand herum, schlug Purzelbäume und Räder und lag zuletzt nur noch am Rücken und lachte vor Glück. Während sich die Männer hinter ihm vor Freude ebenso närrisch benahmen, verschwand er im Dickicht des Waldes. Lange stand er nur da und sog tief den Duft von Erde und Bäumen ein. Endlich machte er sich auf den Weg, um ein wenig durch den Wald zu streifen. Gerade schob er ein paar Zweige zur Seite, um auf eine Lichtung hinauszutreten, da blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen.
Vor ihm stand ein Mensch mit genauso erstauntem Gesichtsausdruck wie er. Der Schiffsjunge musterte diesen verblüfft. Er schien zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt zu sein, in etwa so wie er selbst, aber aufgrund seiner außergewöhnlichen Gesichtszüge ließ sich das nicht so genau sagen. Der Fremde trug auf seiner dunklen, leicht rötlichen Haut kaum Kleidung, dafür aber Bogen und Köcher mit Pfeilen über der Schulter. Dies musste einer der Eingeborenen sein, schoss es dem Schiffsjungen durch den Kopf. Seltsam, dachte er, so gefährlich wie alle behaupteten, sah der gar nicht aus. Fremdartig vielleicht, das schon, aber eben auch ein Mensch.
Dasselbe ging dem Anderen durch den Kopf, als er den jungen Spanier mit den löchrigen, sandigen Stofffetzen um seinen seltsam hellhäutigen Körper betrachtete.
Und dann, ganz langsam, begannen sie beide zu lächeln.
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