Der Geruch der Erinnerungen
Staubige Stofftiere. Vergilbtes Papier von alten Büchern, die beim Lesen schon auseinanderfallen. Ich atme tief ein, sauge diesen seltsam-angenehmen Geruch auf. Ein süßlich riechendes Parfüm, wie meine Oma es hat. Der Duft der frischen Frühlingsluft.
Ausatmen.
Einatmen.
Ich behalte meinen Atem einen Moment länger in mir, wünsche mir dabei still, man könnte diesen Geruch in Flaschen abfüllen.
Die Holzbank, auf der ich sitze, scheint jedes Jahr ein bisschen mehr zu verbleichen. Aber das bemerke nur ich. Ich bin die Einzige, die nicht zu bunten Flohmarktständen läuft, nicht die einzelnen Stände betrachtet, in der Hoffnung, etwas Altes zu kaufen, das ganz neu aussieht, damit niemand erkennt, dass es eigentlich alt ist.
Ich blende diese Menschen aus, die hierher kommen, um zu kaufen. Mich interessieren nur die alten Waren und die Menschen, die sie verkaufen. Diese Leute, die sich entschlossen haben, hier einen Teil ihres Lebens herzugeben.
Sie verlieren ihre Erinnerungen mit ihrem Besitz. Denn Erinnerungen fliegen nicht einfach von hier nach da. Nein, sie haften an den Dingen, die uns an diese Erinnerungen erinnern. Und die Erinnerungen an diese Erinnerungen verkaufen sie hier.
Mein Blick gleitet über die Menge, fällt auf einen Mann mit weißen Haaren, der neben einer kaputten Straßenlaterne seine Anglersachen anbietet. Von meiner Bank aus kann ich die Falten um seine Augen erkennen und an seinem Warentisch lehnt ein hölzerner Gehstock. Er wirkt müde, erschöpft, traurig, als er sieht, wie die Leute seine Angeln, Kescher und Köder begutachten. Wenn sie nach dem Preis fragen und bei seiner Antwort taktisch das Gesicht verziehen, um ihn herunterzuhandeln.
Wieso verkauft er diese Erinnerungen?
Ich lasse meinen Blick weiter über den Platz schweifen. Sehe Junge und Alte, die Bücher mit bunten Rücken, Teller aus Porzellan und Teddybären mit Knopfaugen verkaufen. Erinnerungen verkaufen.
Warum?
Ich wende mich ab, schließe für einen Moment meine Augen und lehne den Kopf gegen die alte Eiche neben der Bank. Die Rinde des Baumes reibt auf meiner Haut, ich atme ein, aus. Und ich kann sie spüren, ich kann sie riechen, die Teddybären, die Bücher, die Erinnerungen.
Ich öffne meine Augen.
GENUG,
steht da, eingeschnitzt in den Baum. Undeutlich, aber doch so wahr. Vorsichtig fahre ich die Buchstaben mit den Fingerspitzen nach.
Ja, diese Leute glauben, sie hätten genug von ihren Erinnerungen. Aber sie reden es sich nur ein. Sie denken, da wären noch genügend andere Erinnerungen. Genug, um ein oder zwei herzugeben.
Sie verkaufen sie, sie vergessen sie.
Mein Blick gleitet zu den Menschen zurück, bleibt einen Moment auf dem Mann mit den Angeln haften. Er nimmt einen kleinen Orden von seinem Tisch, metallen-glänzend in Form eines Fisches. Seine Augen werden feucht, als er vorsichtig darüber streicht. Dann sieht er nach links, rechts und lässt ihn in der Brusttasche seines Hemdes verschwinden.
Diese Erinnerung bleibt.
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