Der Gipfelstürmer
Einst gab es einen alten Mann, der sprang von Berg zu Berg, sein Leben lang. Sein langer grauer Bart fiel wie ein Wasserfall auf den Boden hinab und seine Haut hatte von den vielen Sonnenstunden die Farbe von Zimt angenommen. Die einen meinten, dass er nun schon mehrere Jahrzehnte lang unermüdlich Tag für Tag Gipfel erklomm, die anderen sogar, dass es mehrere Jahrhunderte waren. In Wahrheit wusste jedoch niemand, wie lange er tatsächlich schon auf seiner Reise war. Es machte keinen Unterschied, wie viele Menschen ihn sahen oder wie oft man versuchte, ihn anzusprechen, denn oft weilte er nur wenige Sekunden an einem Ort, bevor er wieder fortzog und nichts als Fragen hinterließ. Wobei – ganz stimmte das nicht. Denn auch wenn nicht einmal mehr ihm selbst der Grund seiner Reise bekannt war, gab es wohl ein Ziel, welches ihn immer wieder mit neuer Kraft speiste. Ein Ziel, welches nicht den Verlust einer einzigen Sekunde verzeihen würde und es gab nichts und niemanden auf der Welt, der ihm dieses aus dem Kopf schlagen könnte. Auf jeden Gipfel, an dem er vorbeikam, rammte er auf der höchsten Stelle ein massives Kreuz in den Fels. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob der Berg nur ein paar hundert Meter hoch war oder mit mehreren tausend bis zu den Wolken hinauf ragte – überall hinterließ er sein Zeichen.
Einmal jedoch, da geschah etwas äußerst Merkwürdiges. Auf einem Gipfel, welchen er mit Sicherheit noch nie besucht hatte, stand einsam und allein ein kleines Gipfelkreuz. Dies war das Werk eines kleinen Mädchens gewesen, das nun schon viele Tage hier oben auf den Alten wartete. Unbedingt wollte es die vielen Geschichten von ihm hören, dieser jedoch hatte keine Erfahrung mit Menschen und ließ aus Angst zu versagen, das Mädchen allein auf dem Gipfel zurück. Mit der Zeit vergaß er diese Begegnung und reiste ungehalten immer weiter, bis es nach vielen weiteren Jahren endlich so weit war – das letzte Kreuz war errichtet. Eine enorme Last fiel dem alten Mann von den Schultern und zufrieden blickte er ins Tal der Alpen hinab, welches nun schon in fahles Mondlicht getränkt war. Erschöpft machte er sich auf den Weg zu einer kleinen Hütte nur wenige Meter weiter unter ihm, in welcher friedlich ein paar kleine Lichtlein schimmerten. Eine kleine Gruppe an Menschen saß darin, lachte über gemeinsames Unglück und staunte über die Erfolge des jeweils anderen. Und anfangs hörte der alte Mann auch nur mit stolzer Miene zu, da er in der Zeit, in der sie einen Gipfel erklommen, eine ganze Bergkette besteigen konnte. Mit der Zeit jedoch und mit jeder humorvollen Anekdote aus dem Leben der Menschen beschlich ihn immer mehr ein unwohles Gefühl. Und schlussendlich beschlich ihn die Erkenntnis. Die ganzen Jahre war er nur auf das Ziel der Reise aus gewesen und war so schnell unterwegs gewesen, dass er alles, was daneben geschah, vollkommen ausgeblendet hatte. Und so saß er nun in der Hütte und wünschte sich, er wäre bei dem Mädchen geblieben, anstatt eilig weiterzureisen.
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