Der Haarschnitt
Das Rauschen am Bahnhof – stillt das Läuten in ihrem Kopf. Das Kreischen auf den Schienen und das Geplapper der Reisenden erschaffen eine neue Art von Symphonie. Kinder ziehen an den Ärmeln ihrer Mutter, nach Eis bettelnd. Koffer donnern gegen Zugböden. Die Schreie, die in ihren Erinnerungen hallen – endlich übertönt.
Der Mantel – ist zu warm für September, aber er verbannt eine andere Form von Kälte. Von der Wolle mit Trost umhüllt, obwohl zahlreiche Motten Narben an den Schultern hinterlassen haben. Ein Vermächtnis ihrer Mutter, die sie während Fahrten mit der Bahn mit diesem Mantel zugedeckt hatte. In den Tagen als sie jederzeit die Stadt verlassen konnte, in dem dichten Garn eingewickelt.
Die Handtasche – quillt über vor Klamotten und vergilbten Fotoalben. Perfekt poliertes Leder glänzt wie Elfenbein – oder wie der Knochen, der aus ihrem Bein herausstach, bevor er ihr die Tasche gab. Er schenkte ihr die Handtasche, obwohl Weihnachten und ihr Geburtstag Monate entfernt waren. Entschuldigung, ich wollte dich nicht verletzten. Leere Worte, die niemals ihren gebrochenen Geist heilen können werden.
Der Lippenstift – bedeckt den Burger, während Öl von ihrem Kinn tropft. Fett fällt auf dem Tisch wie Tränen. Ein rebellisches Grinsen auf ihrem Gesicht, mit dem sie in ihrer Vorstellung die Waage im Badezimmer zuhause zertrümmert. Seine Kommentare über ihre Schminke und ihr Gewicht füllen ihre Ohren, als ihr das verschmierte Rot ihrem Blick begegnet. Hatte sie jetzt endlich die Freiheit, sich abenteuerlicheren Farben zuzuwenden?
Die Schere – lässt Locken in das Waschbecken gleiten. Die zerzausten kurzen Enden umarmen ihren Nacken. Erstaunt über die Frau, die in dem Spiegel der verschmutzten öffentlichen Toilette wohnt. Wo ist die Leiche, deren vernebelte Augen von langen Strähnen verhüllt wurden? Das blutende Mädchen, das auf den Küchenfliesen lag? Ein Mann mit einer Brust wie ein Fass, der an ihrem Zopf zog. Alles verschwindet mit den Haaren, die den Abfluss runterwirbeln.
Der Schlüssel – gräbt sich in ihre Handfläche. Sie wirft ihn in die Mülltonne, damit sie diese Haustür nie wieder sehen müsse. Geh bitte. Der Rat einer Freundin, die er ihr verboten hat zu sehen, führt sie zum Gleis. Sobald sie den Zug betritt, wird der Faden zerschnitten, der sie mit dem Mann mit von Flecken übersätem Unterhemd verbindet.
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