Der Irrgarten des Augenblicks
Heute war Sonntag, also gab es Semmeln. Golden waren sie, knusprig waren sie und
überhaupt sehr lecker. Er biss hinein und es bröselte auf den Tisch, ein Zeichen, dass sie gut
sind, hatte seine Mutter immer gesagt. Früher an den Feiertagen, als Semmeln eine rare und
besondere Belohnung waren.
„Komm mein Kind, lauf schnell los und hol uns das goldene Brot“ , und wie er gerannt ist. Das
Schönste war die unerschütterliche Freude in dem von Sorgenfalten durchfurchtem Gesicht
seiner Mutter, sie hat die Semmeln genommen und aufgewärmt auf dem alten Herd, um die
Wärme in den Bauch zu bringen, hatten sie gelacht. Seufzend steht er auf und wischt die
Brösel weg, das ist ein Luxus. Früher wurde jeder kleine Krümel gesammelt, alles hatte
seinen Nutzen. Der Lappen ist blau und alt, wie das Kleid seiner Mutter. Unschuldig hatte er
als Kind noch gefragt, warum trägst du das jeden Tag? Sie hatte immer nur gesagt, jeder
Mensch bräuchte einen Glücksbringer.
Mit sechzehn präsentierte er seiner Mutter stolz ein neues, rotes Gewand, sie brach in
Tränen aus. Nie wieder fühlte er sich so schlecht wie an dem Tag, als er versuchte, der
wunderschönen Rose von Frau neue Blütenblätter überzuziehen. Es ist lange her, dass er sie
gesehen hat. Sollte er? Nein, es ist zu viel Zeit vergangen. Seufzend blickt ein alter, grauer
Mann in den Spiegel, heraus lächelte ein blonder Junge.
Die Sonne scheint, alle Kinder haben wohl brav ihr Gemüse aufgegessen. Vorne an der Straße
steht ein Eisverkäufer. Kommt das Eis vielleicht vom Nordpol? Er geht nicht, er hopst. Wie
lächerlich. Alles, was dich zum Lächeln bringt, ist ein Geschenk, wieder ein Spruch seiner
Mutter.
Die Straßenbahn bimmelt, so klingt der Schlitten des Weihnachtsmannes. Er rennt hin, es ist
nicht nötig, doch schon zu lange her, dass er den Wind im Gesicht gespürt hat.
Gegenüber sitzt ein Kind, mit großen Augen betrachtet es den Trubel um sich herum. Die
Leute beachten es gar nicht, doch trotzdem schenkt es ihnen Aufmerksamkeit.
Verschmitzt lächelt er es an, der Onkel hat ihm gezeigt, wie man selbst eine Gummischleuder
baut. Im Wald ist ein Platz für das ideale Geheimversteck.
Noch zwei Stationen, immer vorne sitzen, das hat ihm seine Mutter eingeschärft. Die Schule
war heute langweilig, warum sollte man etwas Neues lernen, wenn die Erinnerungen das
Wertvollste sind?
Endlich.
Der Weg ist staubig, die anderen Kinder fuhren mit dem Bus. Ihm macht der Weg nichts aus,
Sport ist gesund. Er summt, überrascht überhaupt zu solchen Tönen fähig zu sein.
Heute ist er unbesiegbar, wenn er groß ist, wird er Feuerwehrmann und macht seine Mutter
stolz.
Einmal um die große Kurve.
Dort ist es. Sonntags macht seine Mutter immer Eier mit Spinat, ob sie bald aus der Kirche zurück ist?
Die rote Tür, selbst angestrichen.
Wie oft hat er die Schuhe auf der blauen Bank abgestreift?
Unzählige Male.
Beschwingt beginnt er zu rennen, vorbei an der Tür und hinter das Haus.
Gleich ist er da.
Vor dem Grabstein bleibt er stehen und beginnt zu weinen.
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