Der Junge und der Alte
Der Junge stand in der dunklen und kalten Wohnung des Alten, die er nun ausräumen musste. Der Alte war noch nicht lange tot, aber er vermisste ihn schon sehr.
Nachdenklich fing er an, die Gegenstände zu verpacken, als er ein Foto von sich und dem Alten entdeckte, eines, das sie aufgenommen hatten, kurz nachdem sie sich begegnet waren.
Die Gedanken des Jungen schweiften ab und er begann sich an den Anfang zu erinnern.
Von Geburt an ließen seine Eltern ihn spüren, dass er ein Unfall war, nicht geplant und nicht erwünscht. Und so war auch ihr Verhältnis zu ihm. Als sein Vater eine Anstellung in einer großen Stadt fand, zogen sie um. Er hatte keine Freunde, kannte sich nicht aus und fühlte sich verloren. Von Anfang an wurde er von seinen Kameraden wie ein Aussätziger behandelt. Eines Tages verprügelten sie ihn. Als er mit blutender Nase nach Hause kam und er seiner Mutter erzählte, was ihm passiert war, blickte sie kurz von ihrem Kaffee auf und sagte nur:
»Na geh bitte, sei doch kein Mädchen! Hör auf zu heulen, ein echter Mann spürt keinen Schmerz«.
Fast jeden Tag passierte irgendetwas Schlimmes, mal fand er seine Schuhe in der Kloschüssel, mal wurde er in einen Schrank gesperrt. Jedes Mal wenn er davon erzählen wollte, fauchten seine Eltern immer nur «Na geh bitte! ».
Die Situation besserte sich auch in der Schule nicht. Er wurde von den Mitschülern gemobbt, geschlagen und von den Lehrern ignoriert. Er wusste nicht, wie er damit fertig werden sollte. Immer nur hieß es NA GEH BITTE!
Eines Tages kam der Junge, wie üblich verprügelt, nach Hause und bevor er überhaupt was sagen konnte, schrie der Vater wütend: » na, geh bitte! «. Und so tat er das. Er ging zur nächsten Brücke und kletterte auf das Geländer. Es war eine neblige Nacht, doch man sah noch wie tief der Fall sein würde und wie schnell das Wasser floss. Der Junge dachte nicht einmal daran wie schrecklich das jetzt sei sondern das er jetzt endlich geht. «Spring nicht! », hörte er eine müde Stimme sagen. «Warum willst du schon gehen? », hörte der Junge wieder. Er erkannte einen Mann im dichten Nebel. Der Mann sah alt, verwelkt und traurig aus. «Alle sagen, dass ich doch gehen solle», sagte der Junge, der langsam eine verschwommene Sicht bekam. « Und jetzt endlich gehe ich», sagte der Junge jetzt mit tränenden Augen. Die Tränen rannen langsam seine Wangen runter. Es gab einen Moment Stille, bei dem man nur das schwere Atmen des Jungen hören konnte. « Ich verstehe», sagte der Mann. Wieder Stille. Der Mann sagte: » Ich wollte auch gehen «. Dann fingen sie an zu reden und der Junge fühlte sich zum ersten Mal gehört. Das war der Beginn einer langen Freundschaft. Bald entschlossen sie sich für einander zu sorgen. Was auch immer für Probleme der Junge hatte, der Alte war für ihn da und hatte immer ein offenes Ohr. Ab diesem Moment hörte der Junge nie wieder «na geh bitte».
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