Der Kreis
Während ich mir Schritt für Schritt einen Weg durch die schier endlose Menschenmenge bahnte, versuchte ich ausgespuckten Kaugummis und Laternenpfosten so gut wie möglich auszuweichen. Ich warf einen Blick auf die Flyer in meiner Hand und merkte, dass nur noch einer übrig war. Momentane Euphorie erfasste mich, als sich meine Augen nach vorne richteten. Der letzte Flyer. Meine Schritte wurden schneller. „Entschuldigen Sie-“ Ich blieb stehen und stellte fest, dass die Dame, die ich angesteuert hatte, in der Menge verschwunden war. Begleitet durch das gedämpfte Schellen zahlreicher Deko- Glöckchen lehnte ich mich gegen eine Laterne. Ich betrachtete den Zettel in meiner Hand. „Der Kreis. Treten Sie in die Welt des Humors und der Schauspielkunst ein. Sie werden sich wünschen, dass dieser Abend kreisförmig gewesen wäre: Ohne Anfang und ohne Ende.“ Plötzlich kam ich mir albern vor. Wie hätte ich nur denken können, dass auch nur irgendjemand Interesse für mein Stück gehabt hätte? Der Geruch von Faschingsschminke stieg mir in die Nase und erinnerte mich an mein Aussehen. „Mama, schau mal, sie ist ein Clown!“ Ich senkte meinen Kopf. Dann hielt ich inne. Zuerst bemerkte ich den, für diese Jahreszeit seltsamen, aber vertrauten Geruch von Zimt. Dann sah ich den Stand. Vor all den Hochhäusern sah er fast albern aus. Zwischen Lametta und Lichterketten hob sich eine Figur ab. Wie ferngesteuert überquerte ich die Straße. Je näher ich kam, desto deutlicher sah ich sie. Eingepackt in einen dicken, roten Mantel, einer passenden Wollmütze und einem Aufklebebart grinste sie mir zu. „Was haben wir denn da? Ich dachte Fasching ist erst wieder nächstes Jahr.“ Gerissen aus meiner Trance sah ich an mir hinunter und erwiderte: „Ich dachte auch, dass Weihnachten erst in drei Monaten ist.“ „Stimmt. Ich mache das für meine Kunden.“ Sie zeigte auf ihr Kostüm und dann auf meines. „Aber warum du?“ „Ich- mache Werbung.“ Zögernd griff ich in meine Tasche und reichte ihr den letzten Flyer. Sie musterte mich und lächelte. „Interessant. Ich dachte, du machst das zum Spaß.“ Ich sah zu Boden. „Willst du gebrannte Mandeln? Ist ein Geschenk.“ Ohne mir die Chance zu geben, etwas zu erwidern, drückte sie mir eine Papiertüte in die Hand.
Voller Dramatik sagte ich den letzten Satz meines Stückes. Stille. Dann hörte ich allmähliches Klatschen. Ich setzte ein Lächeln auf, richtete meine Fliege und nahm meinen Hut ab, während ich mich tief verbeugte. Als die Lichter der Scheinwerfer verblassten und der Vorhang sich schloss, wagte ich einen Blick in den Zuschauerraum. Ich konnte die Umrisse meiner Familie erkennen und bemerkte enttäuscht, dass der restliche Saal leer war. Was hatte ich auch erwartet? Der Vorhang war fast geschlossen. Und vielleicht bildete ich es mir nur ein, doch im letzten Moment sah ich noch einen Umriss. Zwischen den kahlen Plastikstühlen der letzten Reihe sah er fast albern aus. Und nur für einen kurzen Augenblick dachte ich, dass ich den vertrauten Geruch von Zimt wahrnahm.
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