"Der leise Drang nach Sturm"von Olga Yurkevich
Ein Mensch erträgt, mit viel Beachtung,
Eine gewisse Menge an Verachtung.
Doch ist die Grenze überschritten
Vergisst er alle guten Sitten.
Die Folgen können variieren
Und alle ganz spontan passieren.
Von Streitigkeiten und vom Zoffen
Bis hin zu großen Katastrophen…
Jeden Morgen brachte der Postbote das Wissenschaftsmagazin. Für Herrn Rieger war der morgendliche Wissensschluck - wie für andere der Kaffee - unumgänglich.
WIR STÜRMEN DURCH DEN DRANG stand auf der Titelseite an jenem Tag.
Frau Rieger war damit beschäftigt, Semmeln mit Butter zu beschmieren, als Herr Rieger sich an den Esstisch setzte, neben seinen Sohn Konrad.
"Andreas, komm endlich runter! Andreas! " Frau Riegers Stimme klang schrill, mit einem etwas genervten Unterton. "Dieser Junge macht mich narrisch. Er kommt wieder zu spät. Konrad, willst du nicht vielleicht deinen Bruder holen? " "Lass ihn doch. Zumindest plant er, heute in der Schule zu erscheinen", brummte Herr Rieger, ohne von seinem Magazin hochzuschauen. Ihn interessierte es viel mehr, wieso Goethes literarische Werke und die berühmte Epoche des Dichters zu Suizidwellen führten.
Konrad machte einen Bissen von seinem doppelbestrichenen Marmeladenbrot. Er hatte an jenem Tag einen Chemietest zu meistern und brauchte viel Treibstoff in Form von Zucker. "Er wird bestimmt gleich runterkommen, ich habe ihn ins Badezimmer gehen gesehen. "
Es war der siebte Oktober und die Familie Rieger hatte nichts Besonderes vor. Sie hatten eigentlich nie etwas Besonderes vor. Frau und Herr Rieger arbeiteten jeden Tag bis spät in den Abend und Andreas und Konrad versuchten sich gegenseitig eher zu meiden. Gemeinsames Frühstücken zählte also bereits als Besonderheit.
Plötzlich konnte man jemanden die Treppe heruntersteigen hören. Andreas betrat das Esszimmer. Er trug eine schwarze Hose mit selbstausgeschnittenen Löchern. Unter der Weste schaute ein Papa Roach T-Shirt hervor. Frau Rieger betrachtete ihn ganz kurz. "Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du gefälligst keine Straßenschuhe im Haus tragen sollst? " "Das spart immer noch Zeit", murmelte Andreas, während er nach einer mit Butter bestrichenen Semmel griff. Das gemeinsame Frühstück dauerte nicht lange an. Nach etwa fünf Minuten mussten Konrad und Andreas hinaus, um den letzten Bus, der sie pünktlich in die Schule bringen würde, zu erwischen.
Die Fahrt verging leise. Andreas hatte Kopfhörer in den Ohren und imitierte mit geschlossenen Augen das Spielen auf einem Schlagzeug. Konrad wiederholte den Chemiestoff. Auf den ersten Blick konnte man überhaupt nicht erkennen, dass diese zwei Teenager Brüder waren, geschweige denn, dass sie als Zwillinge geboren wurden.
Der Schultag verging wie immer. Konrad und Andreas gingen in die selbe Klasse, was dazu führte, dass sie immer verglichen wurden. Meistens, beziehungsweise immer, war Konrad das Vorbild. Er war Klassensprecher und kandidierte für das Amt des Schulsprechers. Sein Notendurchschnitt war seit der ersten Klasse 1, 0 und er schaffte es mit jedem, den er traf, eine gute Beziehung aufzubauen. "Ein fleißiger und hartnäckiger Junge. Ein Schatz", pflegten Frau und Herr Rieger zu sagen.
Andreas war die Schule egal. Er besuchte sie nur, weil seine Eltern ihn sonst aus dem Haus schmeißen würden. Er war laut, ungehorsam und frech. Die meiste Zeit verbrachte er auf gratis Punkkonzerten mit Alkohol und sonstigen Drogen. Seine zwei besten Freunde waren überzeugte Anarchisten, die Spaß daran empfanden, kleinen Kindern das Taschengeld wegzunehmen. Andreas machte bei diesen Vergehen nie mit, jedoch schaute er immer still zu und rührte sich nicht, während seine Freunde auf die Unterstufenklässler draufschlugen. Die Eltern pflegten nichts über ihn zu sagen.
Nach der Schule ging Andreas meistens zum verlassenen Kinotheater, welches vierzig Minuten von der Schule entfernt lag. Dort arbeitete er an seinen Graffitizeichenkünsten und dachte über das Leben nach.
Meistens gab es nur ein denkwürdiges Thema. Konrad. Als Andreas zehn Jahre alt war, überhörte er ein Gespräch zwischen seinen Eltern, in welchem sie darüber sprachen, dass Konrads Potenzial einfach größer sei. Das traf den jungen Andreas sehr stark. Er beschloss, Herrn und Frau Rieger vom Gegenteil zu überzeugen. Das hatte jedoch nicht funktioniert. Wenn Andreas ein Sehr gut nach Hause brachte, hatte Konrad eine bessere Punktezahl. Während Andreas mit Mühe ein Muttertagsgeschenk zusammenklebte, war Konrad schon dabei, seins zu schenken. Während Andreas im Zimmer aufräumte, war Konrads Zimmer immer sauber. Nach etlichen Versuchen gab Andreas auf. Nur durch Wunder gelang ihm der Aufstieg von einer Schulstufe in die nächste. Was bringt es, im Schatten einen Baum einpflanzen zu wollen?
Langsam vergaß Andreas, was es heißt, zielstrebig zu sein. Er blieb aber voller Überzeugung, dass Konrad ihn absichtlich schlechter dastehen ließ.
Wahrscheinlich wissen viele nicht, wie es sich anfühlt, einen Geschwisterteil nicht als solchen wahrnehmen zu können oder zu wollen. Man fühlt sich leerer als man schon ist, als würde etwas im Leben einfach verloren und unauffindbar sein. Das fühlte Andreas sekündlich und anstatt dem Problem auf den Grund zu gehen, beschuldigte er Konrad. Er verabscheute ihn dafür. Alles Schlechte in Andreas’ Leben war seines Bruders Schuld. Bloß wusste Konrad nichts davon.
Nachdem auch die letzte Spraydose verbraucht worden war, begab sich Andreas gleich nach Hause. Dort barrikadierte er die Tür, schaltete seine Metal-Playlist ein und vergaß die Welt. So hatte er es auch an jenem Tag vorgehabt. Doch bevor er es schaffte, die Zimmertür zu schließen, kam Konrad herein. "Du warst in der letzten Stunde nicht mehr da. Professor Center hat mir einen Zettel mitgegeben. " "Mhm", ertönte es aus Andreas als Antwort. Er fand, dass Konrad ein „Danke“, oder jegliche andere Antwort nicht wert sei.
Sein Bruder streckte das Arbeitsblatt vor. Konrads Hoffnung auf eine gute Bruderschaft war mit den Jahren verblasst. Er verstand seinen Bruder nicht. Jedoch musste er einsehen, dass er es auch nicht wirklich versuchte.
Konrad atmete tief durch und fragte: "Na, wie war der Test so? " "Du warst doch dabei", antwortete Andreas nach einer Pause. Wahrscheinlich wollte er damit andeuten, dass er beschäftigt sei und kein Interesse verspürte mit seinem Bruder zu reden. "Ja, aber ich meine für dich. " "Ja, aber ich meine für dich", äffte Andreas Konrad nach. Konrad senkte den Kopf und blieb eine Weile so stehen. "Ist noch was? ", fragte Andreas. "Wieso bist du eigentlich so? " Konrad erhob schnell den Kopf. Das wollte er nicht laut sagen. "Wie bitte? " Andreas’ Sessel rutschte zurück und sein langgezogener Körper richtete sich auf.
"Rede doch mit mir. Rede! ", brach es aus Konrad heraus. Er erschrak wieder, aber konnte sich nicht mehr aufhalten. Der Drang war viel zu groß.
"Reden? Es gibt nichts, was wir besprechen können, alles wurde schon gesagt! "
"Eben nicht! Nichts wurde gesagt. Du behältst alles in dir. Wir sind Geschwister, aber mir sind deine Gedanken komplett fremd. Verdammt! Ich kann sie nicht lesen und du kannst sie einfach nicht laut aussprechen. Was gefällt dir denn nicht? ! "
"Geschwister? Ich muss dein Bruder sein, das heißt noch lange nicht, dass ich es sein möchte! Du checkst ja überhaupt nichts. SCHEISSE! Du willst meine Gedanken? Ich würde dich am liebsten gar nicht kennen und dich nicht sehen müssen! Ich hasse dich! "
Stille. Für Andreas waren diese Worte nichts Neues, nichts Erschreckendes, nichts, wofür er sich schämen und schon gar nicht entschuldigen wollte. Dieser Dialog fand in ihm schon etliche Mal statt, bloß, dass er dieses Mal eine viel beruhigendere Wirkung verspürte, denn er hatte es endlich laut gesagt. Nicht um Mitternacht, weil er wieder vor Wut nicht einschlafen konnte. Nein. Es war tagsüber. Es war hell. Er war nicht allein.
"Ich wusste nicht, dass du so über uns denkst. Ich dachte, dass wir trotzdem ein Herz und eine Seele sind. Vielleicht auf komplett verschiedenen Wellenlängen, aber. . . " Konrad konnte nichts mehr sagen. Er spürte einen Kloß in sich heranwachsen, versuchte ihn runterzuschlucken, doch vergebens. Die Situation war für ihn ungewohnt. Meistens wusste er ganz genau, was er sagen möchte. Jedes einzelne Wort. Er hatte immer alles vorgeplant, stand immer vorbereitet im Mittelpunkt und war immer sicher in dem was er tat. Doch nicht heute. Nein. Heute musste er spontan handeln.
Konrad begann sich langsam zu seinem Bruder hinzubewegen. Ein Schritt nach dem anderen. Als wäre er ein kleines Kind, welches erst vor kurzem das Gehen erlernt hatte. Ein Schritt nach dem anderen. Er war ruhig, atmete tief ein und aus. Andreas bewegte sich nicht. Er ging noch einmal alles, was er gerade gesagt hatte, durch. Ob er auch ja kein wichtiges Detail ausgelassen hatte. Das war sein goldener Moment. Der Moment der Wahrheit. Er sah seinen Bruder endlich als Verlierer an. Endlich.
Konrad blieb nur ein paar Zentimeter vor Andreas stehen. Stille. Nur das tiefe Ein- und Ausatmen war zu hören.
Andreas setzte ein leicht schiefes Lächeln auf. „Dieses verdammte Lächeln“, dachte sich Konrad. „Ich hasse dieses Lächeln. Ich hasse diesen Menschen.“ Ihn schauderte es. Noch nie hatte er so etwas gedacht, schon gar nicht über seinen eigenen Bruder. Doch er verdrängte den Gedanken nicht. „Ich hasse ihn.“
Mit diesen Worten riss etwas in Konrad. Eine Sicherung brannte durch. Er sprang auf Andreas und begann ihn zu verprügeln. Er hörte nichts, er sah nichts, er schlug einfach zu. Eine Armbewegung nach der anderen. Sie landeten beide auf dem Boden. Der Sessel fiel um. Eine Armbewegung nach der anderen. Bis Andreas sich nicht mehr bewegte.
An diesem Tag stürmte es und dichter Nebel störte die Autofahrer auf den Straßen. Konrad wurde um 18: 47 abgeführt. Natürlich waren die Eltern am Boden zerstört. Sie dachten an ihren Sohn. Den armen Sohn. Er ist doch nicht fähig so etwas zu tun, der arme Sohn. Er wurde anders erzogen.
„Ist Andreas nicht stärker als ich? Wieso hat er mich nicht aufgehalten? Wieso hat er das zugelassen?“ Konrad brauchte Antworten. Doch leider konnte er Andreas nicht mehr fragen. Er konnte mit ihm nie (wieder) darüber reden.
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