Der letzte Brief der Menschheit
Hallo,
Wie ich heiße, ist nicht wichtig, denn für mich ist es zu spät. Wo ich bin, ist auch nicht wichtig, denn hier gibt es mich nicht mehr. Was ich getan habe, ist auch nicht wichtig, denn es war nicht genug.
Wir befanden uns auf dem Höhepunkt des technischen und medizinischen Fortschritts. Die Worte des Hungerns und des Leidens waren uns fremd. Die Menschheit war glücklich. Sie hatte alles, was sie brauchte. Es gab mehr Nahrung als je zuvor. Die Kriminalität war rückläufig. Alle Bürger erfreuten sich großen Wohlstands und genossen die Früchte des Friedens und der Sicherheit. Wir begannen jedes neue Jahr mit offenem Herzen, mit Zuversicht und Hoffnung. Wir waren davon überzeugt, dass das Gute immer über das Böse triumphieren würde. Das Leben hatte den größten Sinn und war eine Quelle der Freude. Doch wir waren naiv genug zu glauben, dass der Wohlstand von Dauer sein würde. Auf der anderen Seite der Welt gab es die ersten Naturkatastrophen. Wo auch immer sie auftraten, was auch immer sie anrichteten, sie waren zu weit weg, um uns aus unserem Bann zu reißen.
Die guten Zeiten waren wirklich wunderbar - aber zu welchem Preis? Diese Frage nagt an mir, seit der utopische Zauber der Vergangenheit angehört und zum dystopischen Fluch der Zukunft geworden ist.
Die trügerische Phrase "Morgen werden die Zeiten besser sein! " erwies sich als Rechtfertigung für verschwenderische Handlungen und eine Gier nach Besitz, bei der alles einen endgültigen Preis hatte. Ganz gleich, was uns versprochen wurde, alles war eine Lüge. Anstatt Frieden gab es Krieg. Anstatt sich zu lieben, hassten wir einander. Anstatt uns an die Fehler der Vergangenheit zu erinnern, wiederholten wir sie stumpfsinnig. Wir suchten Trost in uns selbst und vergruben unser Gewissen in unseren materiellen Besitztümern. Wir waren gelähmt durch Kurzsichtigkeit und Unwissenheit. Wir wurden zu Gegnern von uns selbst und unseren eigenen guten Eigenschaften. Wir waren voller Ängste und Schuldgefühle, obwohl wir voller Hoffnung und Optimismus hätten sein sollen. Wir waren endgültig am Ende unseres Weges, am Ende der Menschheit angelangt. Und dazu habe ich genauso beigetragen wie wir alle.
Lebt wohl,
Homo sapiens.
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